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Schneller lesen

Am Tag sind wir rund zwei Stunden damit beschäftigt, zu lesen: E-Mails, Facebook-Nachrichten, Zeitungen und Bücher. Speedreading-Kurse versprechen an einem Wochenende, das Lesetempo zu verdoppeln und mehr Informationen zu behalten.

Von Sarah Tschernigow | 10.12.2012
    Das Metronom ist das Lieblingsfolterwerkzeug von Dozent Mirko Thurm. Im Kurs der "Speedstudents" sitze ich zwischen 30 Stundenten; jeder liest ein Buch seiner Wahl. Die Aufgabe: Mit jedem Piep muss eine ganze Zeile geschafft werden. Das hat es in sich.

    Manche versuchen es gleich mit einem Buch über Makroökonomie, ich wähle erstmal einen seichten Krimi, denke, das ist einfacher. Ich komme in einen Fluss, halte das Tempo, ratter über den Text. Aber verstehen tue ich nichts. Den anderen geht es genauso. Erster Frust:

    "Wie viel hast du von deinem Text mitgenommen? Ich würde sagen, ganz wenige Sachverhalte, die ich mir merken konnte... fast nichts. Man hat nicht mehr viel aufgenommen."

    Das soll so sein, erklärt Dozent Mirko Thurm, auch wenn es erstmal unlogisch klingt. Das Auge müsse sich erstmal motorisch an ein anderes Tempo gewöhnen.

    "Am Anfang sind die Leute total geflasht, weil das so ungewohnt ist, und gehen am ersten Tag mit einem mulmigen Gefühl nach Hause, wissen nicht, ob das der richtige Weg ist. Aber das ist ganz normal, weil man auf einem Level übt, wo das Verständnis erstmal gegen null oder gegen zehn Prozent geht."

    Wir bekommen Schablonen, die senkrechte Linien über unseren Text ziehen, ihn in Spalten einteilen. Wir sollen versuchen ganze Wortgruppen zu fokussieren, sprich: pro Zeile nicht mehr so oft stehen zu bleiben. Natürlich wieder im Tempo. Es ist anstrengend, die Augen ermüden, Speedreading ist Arbeit. Die Teilnehmer sind trotzdem mit Eifer dabei; versprechen sich viel vom Seminar. Die meisten studieren Wirtschaft oder Jura und berichten von Bücherbergen vor Klausuren, die sie einfach nicht mehr bewältigen können. Kursleiter Mirko Thurm ist mit 23 Jahren im Grunde einer von ihnen, studiert selber und kennt den Druck. Er verspricht: Die meisten werden nach zwei Tagen ihre Lesegeschwindigkeit verdoppeln und dabei genauso viel Inhalt mitnehmen.

    "Ihr könnt euch das so vorstellen: Ihr habt ein Grundstück, sagen wir 100 Quadratmeter. Und das müsst ihr mähen. Dann könnt ihr einen Rasenmäher nehmen und es mähen. Was macht ihr aber, wenn ihr ein Grundstück von 2000 Quadratmetern habt? Dann nehmt ihr nicht denselben Rasenmäher und mäht einfach nur schneller, sondern einen Rasenmähertrecker. Das heißt, Ihr benutzt einfach eine andere Technik."

    Zu Beginn wurde unser Ausgangsniveau getestet: Wir bekamen einen dreiseitigen Text ausgeteilt, mussten lesen, die Zeit wurde gestoppt und Inhalte abgefragt. Ich kam auf 200 Wörter pro Minute und behielt 50 Prozent des Inhalts – ein Normalleser. Dann die ersten Regeln: Für den richtigen Winkel wird das Buch nicht mehr flach auf den Tisch gelegt, sondern schräg aufgestellt. Damit das Auge präziser folgen kann, wird ab sofort eine Lesehilfe benutzt: die Hand oder ein Stift.

    Und obwohl wir uns stundenlang fast gar nicht gezielt um den Inhalt kümmern, sondern nur ums optische Scannen und Überfliegen von Text, schneiden die meisten beim zweiten Lesetest in der Mitte des Seminars besser ab. Ich schaffe 100 Wörter mehr die Minute und behalte genauso viele Informationen. Ich bin beeindruckt und beende den Tag mit eingebildetem Augenmuskelkater.

    "Willkommen zum zweiten Tag. Vorab: Hat jemand gelesen? Miriam hat gelesen. - Ich hab Zeitung gelesen. Das ging sehr schnell. Ging schnell... das ist cool."

    Heute lernen wir selektiv zu lesen, den Text mit sechs Sekunden pro Seite zu überfliegen und nach Schlüsselbegriffen abzusuchen. In einer anderen Übung sollen wir Textpassagen in Bildern aufmalen, für das Gedächtnis. Ich wage mich an ein Buch von Thomas Mann.

    "Schnappt euch euer Buch, ich sage alle 15 Minuten die Zeit an, dann machen wir eine Augenentspannung."

    Es fängt an, richtig Spaß zu machen. Die Vorstellung, morgens mehrere Zeitungen zu schaffen, gefällt mir als Journalist gut. Beim letzten Lesetest schaffe ich tatsächlich über 400 Wörter pro Minute, dabei bleiben nach Wissenstest sogar fast 80 Prozent hängen! Ich habe meine Lesegeschwindigkeit tatsächlich verdoppelt. Auch die anderen sind positiv überrascht.

    "Also kann ich jedem nur empfehlen. Super für Studium und Beruf. Wow, also ich bin echt begeistert. Ist immer noch ausbaufähig, aber summa summarum hat es sich gelohnt. War gut eingesetztes Geld und gut eingesetzte Zeit. Ich bin müde, aber glücklich!"

    Auch ich bin sehr angetan vom Speedreading. Wir sollen weiter üben, vier Mal pro Woche. Das werde ich tun. Aber garantiert nicht mehr mit Thomas Mann. Denn manchmal bedeutet mehr Lesezeit auch einfach: mehr Genuss.