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Schulden ohne Schuld

Ein Begriff ist derzeit in allen Nachrichtenkanälen zu hören und zu lesen: Schulden. Unter Privatleuten war es lange Zeit verpönt, Schulden aufzunehmen. Für Staaten galt das bisher nicht. Der Soziologe Dirk Baecker erläutert im Interview, warum das so ist.

Dirk Baecker im Gespräch mit Dina Netz | 25.10.2011
    Dina Netz: Morgen stimmt der Bundestag über die neuen Instrumente für den Euro-Rettungsschirm ab. Erst vier Wochen ist die letzte Bundestagsentscheidung her, die ihn stärken sollte, aber EFSF hat wacklige Knie. Der Ausgang der Abstimmung scheint absehbar, denn die Regierungsparteien haben sich heute offenbar mit SPD und Grünen auf einen gemeinsamen Antrag, auch für die umstrittenen Hebelmodelle für den Rettungsschirm geeinigt. Über das Abstimmungsergebnis werden morgen die aktuellen Politiksendungen berichten. Uns interessiert hier in "Kultur heute" die Frage der Schulden und deren Zusammenhang mit Schuld. Ich habe den Soziologen Dirk Baecker gefragt: Wenn ich im Privatleben bei jemandem Schulden habe, stehe ich auch moralisch in seiner Schuld? Gibt es in der Wirtschaft diesen moralischen Begriff der Schuld in Zusammenhang mit Schulden überhaupt?

    Dirk Baecker: Es gibt ihn natürlich als dauernd mitlaufende Beobachtung, wer schuldet wem was und in welcher Situation ist jemand, der einen Kredit noch nicht bezahlt hat. Gleichzeitig ist aber der moralisch aufladbare Schuldbegriff extrem operationalisiert, wenn man so sagen darf. Das heißt, er ist umgesetzt auf die Frage, kann jemand einen Kredit zurückbezahlen, den er aufgenommen hat, ja oder nein. Und die entscheidende Frage ist dann, wann wird dieser Kredit zurückgezahlt und mit welchen Zinsen wird er zurückgezahlt.

    Netz: In moralischen Kategorien kann Schuld ja nur aufgehoben werden dadurch, dass der Geschädigte sozusagen den Täter entschuldigt. Wie funktioniert das nun in der Wirtschaft im Zusammenhang mit Krediten?

    Baecker: Ganz genauso eigentlich, denn das, was die Schulden abzuzahlen erlaubt und damit die Schuld aufhebt, ist die Zurückzahlung der Schulden, und es ist ganz interessant, dass der lateinische Begriff für Zahlung "Solutio" war, das heißt Lösung, und man eigentlich seit alters her mit einer Zahlung die Abgleichung einer Schuld begreift, die zum Beispiel jemand auf sich geladen hat, indem er von jemandem, sagen wir, einen Leib Brot angenommen hat.

    Netz: Früher machte man ja, Herr Baecker, nach Möglichkeit keine Schulden, man borgte sich kein Brot, man ließ nach Möglichkeit nicht anschreiben. Heute hat eigentlich fast jeder irgendeinen Kredit am laufen. Warum ist Schulden machen heute nicht mehr so anrüchig?

    Baecker: Schulden machen ist deswegen nicht mehr anrüchig, weil wir alle gewohnt sind, von uns zu erwarten, dass wir unseren eigenen Umgang mit der Zeit unter die Bedingungen des Bewirtschaftens dieser Zeit stellen. Das heißt, wir nehmen heute alle, wir dürfen heute alle einen Kredit aufnehmen, weil wir uns gegenseitig unterstellen, dass wir in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren alles dafür tun werden, um eine Arbeit zu beginnen oder ein Produkt zu entwickeln oder ein Unternehmen weiterzuentwickeln, die so lukrativ sind, dass wir ohne weitere Anstrengungen den aufgenommenen Kredit aus den Einnahmen, die dann in der Zukunft auf uns zukommen, bezahlen können und auch die zu erwartenden Zinsen daraus bezahlen können. Das heißt, wir gehen wirtschaftend, wir gehen berechnend mit unserer eigenen Zeit um, und in dem Maße, in dem wir das tun, können wir uns auch wirtschaftlich verschulden.

    Netz: Wenn das nicht funktioniert, dann gehen wir in die Privatinsolvenz, was häufig vorkommt. Aber man hat ja im Moment den Eindruck, als hätten Schulden innerhalb des Systems Wirtschaft eigentlich kaum noch Effekte, oder keine Effekte mehr. Gelten nur noch Schulden, die für das eigentliche System der Zahlungen nicht relevant sind? Da Sie Systemtheoretiker sind: Gelten Schulden und deren Schuld nur noch außerhalb des eigentlichen Wirtschaftssystems?

    Baecker: Nein. Wir waren lange Zeit in einer anderen Situation, und die Situation ist so, dass sich Staaten ohne jede weitere Rückfrage verschulden konnten, weil die gesamte Wirtschaft, ohne darüber auch nur nachzudenken auf eine reflektierende oder kritische Art und Weise, weil die gesamte Wirtschaft davon ausgeht, dass Staaten sich jederzeit refinanzieren können. Warum können sich Staaten refinanzieren? Staaten sind die einzigen Einrichtungen, die wir in der modernen Gesellschaft kennen, die auf sogenannte Steuerzahler zugehen können und von diesen Zwangszahlungen, nämlich Steuern, erheben können. Staaten können sich refinanzieren, indem sie die Leute zwingen, ihnen das Geld zu geben, das sie ihnen freiwillig niemals geben würden. Das hat sich jetzt dramatisch geändert. Es kann sich aber nicht von heute auf morgen ändern. Das was wir gegenwärtig erleben ist, dass ein Staatenverbund, die EU, sich überlegt, ob sie nicht in diese ehemals angenommene Lage der risikolosen Staatskredite einsteigen kann, indem sie den sogenannten Olivenländern, bei denen das nicht mehr funktioniert, zur Seite springt und den Rest der EU-Länder, also vor allem die nördlichen Länder, so aufstellt, dass nach wie vor diese Annahme gelten kann, der Steuerzahler wird schon für die Schulden aufkommen können. Das ist ein Zeitkalkül, das die Politik und damit den Zwangszugriff auf Steuerzahler einbaut, und was gegenwärtig auf dem Spiel steht ist die Frage, ob wir damit in der Wirtschaft noch rechnen können, oder ob wir diese Annahme, dass der Steuerzahler zu allem bereit ist, korrigieren müssen.

    Netz: Haben Moral und Wirtschaft heute nichts mehr miteinander zu tun?

    Baecker: Doch, natürlich. Sie haben sehr viel damit zu tun. Jeder Kreditgeber schaut seinen Kreditnehmer darauf an, ob er ihm moralisch zuverlässig scheint oder nicht. Das was Moral eigentlich als Mechanismus trägt, nämlich dem anderen Respekt zu erweisen, also ihn moralisch zu würdigen, oder dem anderen Respekt zu entziehen, also ihn moralisch zu verdächtigen, läuft in der Wirtschaft in allen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-, Kunden-Lieferanten-Beziehungen genauso ab wie im Rest der Gesellschaft. Darauf kann auch die Wirtschaft nicht verzichten. Der Witz ist nur der, dass sich mithilfe der Frage, bist du zahlungsfähig, oder bist du nicht zahlungsfähig, viele sonstige moralische Fragen auf Abstand halten können. Moral ist ja ein Bindungsmechanismus: mach dich mir verlässlich, sonst verlierst du meinen Respekt. Wenn aber dieser Bindungsmechanismus durch Zahlungsbereitschaft, hinreichend dokumentierte Zahlungsbereitschaft, kompensiert wird, dann kann man in diesem Ausmaße mit den eigenen moralischen Ansprüchen auch etwas dezenter umgehen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.