Donnerstag, 28. März 2024

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Schwedische Polizei
Nüchterne Realität jenseits von Wallander und Co

Fiktive, krimigerechte Polizeiarbeit zeigen zum Beispiel die schwedischen Fernsehkommissare Wallander und Beck. Die Realität ist aber ernüchternd: Obwohl die Politik große Ressourcen bereitstellt und Strukturen reformiert hat, sinken die Aufklärungszahlen. Hanne Kjöller von der Tageszeitung "Dagens Nyheter" hat die Gründe recherchiert.

Von Berthold Forssman | 18.07.2016
    Mobilphone-Aufnahme nach einer Messerattacke im Möbelkaus Ikea in Vasteras/Schweden am 10.08.15. Ein Polizeiwagen steht vor dem Gebäude. AFP PHOTO / TT NEWS AGENCY / PETER KRUGER
    Schwedischer Polizeiwagen: Kritik an den Strukturen. (AFP / TT NEWS AGENCY / PETER KRUGER )
    Mitte Dezember 2007 wird im südschwedischen Askersund eine 49-jährige Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Obwohl der Arzt als Todesursache Gewalteinwirkung vermutet, nimmt die Polizei keine Ermittlungen auf. Ein Grund für das mangelnde Interesse: Die Frau ist schon länger als Alkoholikerin bekannt und Weihnachten steht vor der Tür – die Mitarbeiter wollen in die Ferien gehen. Trotz aller Verdachtsmomente gegen den Ehemann wird der Fall nur von Lokalkräften und ohne erfahrene Mordkommission bearbeitet.
    Einer der Polizisten lässt trotzdem nicht locker. Jahre später landet der Fall deshalb vor Gericht, doch muss das Verfahren am Ende aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. In seiner Urteilsbegründung äußert das Gericht vor allem Kritik an der Ermittlungsarbeit der Polizei. Beweismittel wurden nicht gesichtet oder analysiert, der Tatort wurde nicht abgesperrt, und es gab keine Spurensuche. Der Ehemann konnte sich nach der Tat frei in der Wohnung bewegen, putzen und aufräumen und trank sogar in der Küche mit den Beamten Kaffee. Leider ist das kein Einzelfall. Die Autorin berichtet:
    "Im März 2015 verfasste ich einen Artikel über einen Mann, der nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals Opfer von Straftaten wurde. Bei einem Einbruch in seiner Autowerkstatt filmte die Überwachungskamera den ganzen Vorfall. Aber obwohl der Täter deutlich zu erkennen war, verzichtete die Polizei auf Ermittlungen. Der Film wurde nicht einmal angeschaut. Nach Veröffentlichung dieses Artikels wurde ich geradezu überschwemmt mit E-Mails von Leuten, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten – der geringste Aufwand wurde unterlassen, selbst wenn die mutmaßlichen Täter den Opfern persönlich bekannt waren, oder bei Betrugsfällen die Kontobewegungen nachgewiesen werden konnten."
    Naheliegende Einwände werden entkräftet
    Der naheliegende Einwand, die Polizei sei eben überfordert und chronisch unterfinanziert, wird von Kjöller umgehend entkräftet. Fast gleichzeitig mit dem Mord in Askersund wird ein angesehener Hochschuldozent ermordet aufgefunden. Eine zügig eingesetzte Soko löst den Fall mit seinem komplizierten Motiv. Auch andere Ermittlungen oder Modellprojekte zeigen: Es geht, wenn man tatsächlich will.
    Ermittelt wird im Mordfall Askersund später übrigens noch einmal, aber intern gegen den Polizisten, der den Fall vor Gericht gebracht hat. Ihm wird unter anderem eine Übertretung seiner Befugnisse vorgeworfen, weil er gemeinsam mit der Tochter des Opfers den Computer der Toten vor dem Zugriff des Ehemanns gesichert hat.
    Auch nur ein bedauerlicher Einzelfall? - Eben nicht. Und das ist das Schlimme. Intern wird nämlich nach Kjöllers Erkenntnissen ermittelt, was das Zeug hält. Gegen den hartnäckigen Polizisten von Askersund wie gegen viele andere, die es gewagt haben, sich kritisch gegenüber ihren Vorgesetzten zu äußern oder einfach nur vorgeschlagen haben, den ermüdenden Verwaltungsaufwand durch modernere Computersysteme zu reduzieren. Eine solche Aufmüpfigkeit wird als fehlende Loyalität gegenüber der Organisation gewertet, ihre Verursacher gelten als Nestbeschmutzer und Whistleblower.
    "Die vielen Ereignisse dieser Art bilden ein Muster. Man kann nicht die Augen davor verschließen, dass die Polizeiverwaltung systematisch seit Jahrzehnten gigantische Ressourcen nur dafür aufwendet, Mitarbeiter mundtot zu machen, um bloß nicht in neuen Bahnen denken zu müssen. Polizisten haben dieses Bild bestätigt und ausgesagt, wie Andersdenkende ausgegrenzt und bestraft werden. Gemobbt wird, wer es wagt, aufzumucken oder wer einfach nur "anders" ist – einer anderen Altersgruppe angehört, ein anderes Geschlecht oder eine andere Hautfarbe hat. Er oder sie verstößt damit gegen das Wir-Gefühl und passt darum nicht ins Team."
    Problem liegt in den Strukturen
    Schritt für Schritt weist die Autorin nach, dass das Problem nicht in mangelnder Finanzierung oder Überlastung der zu wenigen Mitarbeiter liegt. Auch jeder andere mögliche Einwand wird umgehend entkräftet, und jede gängige Relativierung wird sofort entlarvt. Ja, auch in anderen Bereichen kommt es zu persönlichem Versagen. Und ja, auch anderswo werden Statistiken gefälscht. Und nein, Mobbing ist kein reines Polizeiproblem. Und nein, es geht nicht um Polizisten-Bashing, denn es gibt sie, die gut ausgebildeten, tüchtigen und motivierten Ermittler. Aber bei der Polizei werden sie schneller kaltgestellt, für psychisch labil und damit für potenziell gefährlich erklärt. Sie werden auch nicht etwa vor die Tür gesetzt, sondern unter ihrer Qualifikation eingesetzt oder erhalten gar keine Aufträge mehr.
    "Brigitta Engberg ist seit 36 Jahren Polizistin. In den 80er-Jahren kam sie – eher durch Zufall und weil sie halt eine Frau war – nahe Stockholm zu einer Abteilung für häusliche Gewalt. Viele Methoden waren damals in diesem Bereich noch nicht so weit wie heute entwickelt. Brigitta setzte unter anderem durch, dass Kinder nicht mehr in der Gegenwart ihrer mutmaßlichen Peiniger vernommen werden durften und sich nicht den Polizeibeamten auf den Schoß setzen mussten. Sie machte Karriere, erhielt internationale Aufmerksamkeit und wurde ins Ausland zu Vorträgen und Schulungen eingeladen. Aber nachdem sie wiederholt Kritik an den Vernehmungsmethoden ihrer Kollegen geäußert hatte, wurde sie für Bagatelldelikte wie Fahrraddiebstähle und am Ende zum Dienst an der Pforte eingesetzt."
    Gigantische Ressourcen werden auf diese Weise verschwendet. Natürlich, Fehler werden überall gemacht. Kjöller stellt aber klar: Das Problem ist, dass sie nicht entsprechend aufgearbeitet werden. Und hier kann der Schluss nur lauten: Repressalienkultur führt zu einer Vertuschungskultur. Dadurch wird auf schmerzhafte Weise deutlich, dass der Fehler im System liegt und sich auch nicht durch die soundsovielte Strukturreform lösen lässt.
    Die große Stärke des Buchs liegt darin, jedes Gegenargument im Keim zu ersticken. Das ist gleichzeitig auch seine einzige Schwäche: Die Lektüre macht so wütend, dass man das Buch immer wieder am liebsten aus der Hand legen möchte. Selbst konservative Kritiker geben der Autorin Recht und räumen ein: Schweden hat nicht die Polizei, die es bräuchte oder verdient hätte.
    Buchinfo:
    Hanne Kjöller: "En Svensk Tiger"
    Fri Tanke, 301 Seiten, etwa 25 Euro