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Seit 35 Jahren im Bundestag
Der fiktive Abgeordnete Jakob Maria Mierscheid feiert Jubiläum

Jakob Maria Mierscheid ist ein politisches Urgestein: Der SPD-Abgeordnete sitzt seit 35 Jahren im Bundestag und wird von allen Kollegen geschätzt. Gesehen hat den guten Mann allerdings noch niemand. Mierscheid gibt es nur auf dem Papier. Dort findet er aber oft die passenden Worte für seine realen Kollegen.

Von Stefan Maas | 09.12.2014
    Mit Foto und Lebenslauf präsentiert sich der, allerdings nur virtuell vorhandene, SPD-Bundestagabgeordnete Jakob Maria Mierscheid auf der Internetseite des Bundestages.
    Mit Foto und Lebenslauf präsentiert sich der, allerdings nur virtuell vorhandene, SPD-Bundestagabgeordnete Jakob Maria Mierscheid auf der Internetseite des Bundestages (2009). (picture alliance / dpa / SPD)
    "So, guck mal, nehmt euch doch mal eine Schere. Hiermit erklären wir den Jakob Maria Mierscheid-Weg für eröffnet."
    Es ist ein kühler Oktobersonntag im Hunsrück. Der Wind pfeift scharf über den Höhenweg. Andreas Hackethal, der Bürgermeister der Gemeinde Morbach, hat endlich die erlösenden Worte gesprochen, das rote Band ist zerschnitten, die Wandergruppe setzt sich in Bewegung. Hangabwärts. Auf der Suche nach dem Symbol, das einen bebrillten Mann mit auffälligem Schnauzer zeigt. Jakob Maria Mierscheid. Geboren 1933. Gelernter Schneidermeister. Verwitwet, Vater von vier Kindern. Nach 35 Jahren in der Politik längst eine Bundestagslegende.
    "Im Dezember '79 kam er dazu. Und man kannte ihn dann sehr schnell",
    erinnert sich Franz Müntefering. Der spätere SPD-Fraktions- und Parteichef war schon einige Jahre Abgeordneter in Bonn, als Mierscheid die Fraktion verstärkte:
    "Naja, es war klar, da ist ein neuer Kollege. Man hatte ihn noch nicht gesehen. Und dann wurde zunächst gesagt, das ist wahrscheinlich ein Phantom. Aber dann hat man nach wenigen Tagen gemerkt, das ist ein Phänomen, dieser Mann."
    Drei Väter für Mierscheid
    "Jakob Mierscheid ist in die Welt gekommen als Nachrücker vom am gleichen Tag verstorbenen Carlo Schmid. Ein bedeutender Parlamentarier, einer der Väter des Grundgesetzes, der auch mal Minister gewesen ist. Der hat zwar nicht mehr dem Bundestag angehört, aber Mierscheid ist für ihn nachgerückt", erzählt Friedhelm Wollner, bis zu seiner Pensionierung Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Er hat sich von Anfang an bis heute um den Schriftverkehr des fiktiven Abgeordneten gekümmert. Väter hat der 1979 geschaffene Abgeordnete aber drei:
    "Den Namen hat Karl Haehser beigesteuert, die Geburtsdaten haben wir dann von Dietrich Sperling genommen. Und von Peter Würtz den zweiten Vornamen. Nämlich Maria. Jakob Maria Mierscheid."
    Der Mann mit den zwei Geburtsdaten. März 1933 in Morbach. Dezember 1979 in Bonn.
    "Der Hintergrund ist eigentlich, dass die drei auch der Auffassung waren, dass der trockene Parlamentsbetrieb in Bonn eigentlich eine Auflockerung brauchte. Und etwas Humor brauchte."
    Legendäre Wahlprognostik
    Bekannt gemacht haben ihn seine Erfinder mit einem einfachen, aber wirkungsvollen Trick:
    "Die beste Methode, das zu gewährleisten, war damals im Bundestag ihn ausrufen zu lassen. Die Hausrufanlage im Bundestag hat ständig getönt und geklingelt. Weil immer Leute gesucht wurden. Also wurde Jakob Mierscheid öfter ausgerufen. Und damit gab es einen Erinnerungseffekt. Da gibt es einen, der heißt Mierscheid. Wer ist das denn?"
    Besondere Berühmtheit erlangt Mierscheid 1983. In einem Artikel in der SPD-Parteizeitung "Vorwärts" formuliert er eine neue Gesetzmäßigkeit zur Wahlprognostik.
    "Das legendäre Mierscheid-Gesetz. Die Feststellung des Zusammenhanges zwischen SPD-Bundestagswahlergebnis und deutscher Rohstalproduktion in den alten Bundesländern. Dieses Gesetz funktioniert seit Anfang der 60er-Jahre. Immer mit ein, zwei Punkten Abweichung."
    Nur einmal, da versagt das Gesetz. Leider entscheidend für die Sozialdemokraten. 2005, die vorgezogene Bundestagswahl. Die Rohstahlproduktion steigt damals auf 40 Millionen Tonnen. Die SPD fällt: auf 34,2 Prozent. Angela Merkel wird Kanzlerin. Ein Dämpfer. Nicht der Einzige.
    "Sein Vorschlag auch, dass alle Reden der Abgeordneten zu Protokoll gegeben werden sollten außer der Endpassage, die immer beginnt: Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Das war ja ein hoher Entbürokratisierungsvorschlag und auch ein Vorschlag, der dazu geführt hätte, dass das Parlament ein mehr zuspitzendes Parlament geworden wäre. Eigentlich war das ein alternativloser Vorschlag, aber er ist leider nicht erhört worden."
    Abgeordnete verstecken sich hinter seiner spitzen Feder
    Das bremst den Eifer den eifrigen Briefeschreiber keineswegs. Er hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. In seinen Briefen spießt er - zielsicher, aber nie verletzend - auf, was ihm falsch erscheint. Ungerecht. Oder einfach kommentierenswert.
    "Viele von uns haben sich auch ein bisschen hinter ihm versteckt. Oft wenn was Politisches gesagt wurde, hat man es besser gewusst, aber man wollte dann den Frieden nicht stören oder wollte nicht gegen die öffentliche Meinung angehen."
    Den Schneidermeister aus dem Hunsrück stört das verständlicherweise nicht. Seine Post erreicht bald nicht mehr nur die Sozialdemokraten. Auch die Abgeordneten der anderen Parteien wissen den Mierscheid zu schätzen.
    "Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen."
    Es gibt eine Tradition im Bundestag.
    "Ich eröffne unsere Sitzung und gratuliere zu Beginn ..."
    Auch am 1. März 2013 ist alles wie immer. Fast.
    "Es gibt heute noch ein anderes bedeutendes Jubiläum. Jakob Mierscheid wird 80 Jahre alt. Dem ich ebenfalls im Namen des ganzen Hauses gratulieren möchte."
    Das Protokoll der 226. Sitzung der 17. Legislaturperiode verzeichnet an dieser Stelle: Heiterkeit!
    "Dieser geschätzte, gelegentlich verzweifelt gesuchte Kollege hat schon im Jahre 1979 in der Nachfolge von Carlo Schmid seine denkwürdige Tätigkeit im Deutschen Bundestag aufgenommen. Er hat sich für die heutige Sitzung aus zwingenden Gründen entschuldigen müssen."
    80. Geburtstag - 35 Jahre im Bundestag. Mierscheid macht sich rar, wenn es darum geht, sich feiern zu lassen. Böse ist ihm deswegen niemand. Nicht in Berlin. Und schon gar in Morbach. Denn alle wissen: Wenn es darauf ankommt, dann lässt er von sich hören. Da ist er phänomenal verlässlich.