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Phantomsuche
Der Bundestag und sein fiktiver Abgeordneter

Der Bundestag ist nicht nur bekannt für seine ernsten Debatten, sondern liefert in regelmäßigem Abstand auch immer wieder Grund zur Heiterkeit. Zum Beispiel wenn es um Jakob Maria Mierscheid geht. Er soll schon seit 1979 im Bundestag sitzen. Aber das tut er gar nicht. Er ist fiktiv.

Von Stefan Maas | 13.02.2014
    "Guten Morgen liebe Kolleginnen und Kollegen."
    Was wäre eine Bundestagssitzung ohne Traditionen…
    "Ich eröffne unsere Sitzung und gratuliere zu Beginn…"
    Auch am 01. März des vergangenen Jahres ist alles wie immer. Fast…
    "Es gibt heute noch ein anderes bedeutendes Jubiläum. Jakob Mierscheid wird 80 Jahre alt. Dem ich ebenfalls im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren möchte."
    Das Protokoll der 226. Sitzung der 17. Legislaturperiode verzeichnet an dieser Stelle: Heiterkeit!
    "Dieser geschätzte, gelegentlich verzweifelt gesuchte Kollege hat schon im Jahre 1979 in der Nachfolge von Carlo Schmid seine denkwürdige Tätigkeit im Deutschen Bundestag aufgenommen. Er hat sich für die heutige Sitzung aus zwingenden Gründen entschuldigen müssen."
    Das kommt leider häufiger vor. Trotzdem, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert:
    "Ich hoffe sehr, dass uns der Kollege Mierscheid auch in der nächsten Legislaturperiode erhalten bleibt. (Gelächter) Die naheliegende Aufgabe die konstituierende Sitzung als Alterspräsident zu eröffnen würde allerdings voraussetzen, dass er persönlich anwesend ist."
    War der Sozialdemokrat natürlich nicht. Und so musste Heinz Riesenhuber von der CDU ran. Macht ja nichts, wurde eh eine Große Koalition. Doch auch seitdem wurde Mierscheid nicht gesehen. Dabei ist er nicht faul. Es liegt auch nicht daran, dass er statt im Bundestag zu sitzen lieber bei einem Verband oder einer Bank gegen gutes Geld eine Rede hält. Das überlässt der SPD-Abgeordnete lieber Fraktionskollegen. Sucht man auf der Seite des Bundestages nach Mierscheids Nebeneinkünften und anderen veröffentlichungspflichtigen Angaben, bekommt man die Auskunft: "Angaben liegen z. Zt. noch nicht vor." Wie auch? - Mierscheids ganze Existenz dreht sich um die Politik.
    Tauben-Aufzucht Schwerpunkt seines Wirkens
    "Jakob Mierscheid ist in die Welt gekommen als Nachrücker vom am gleichen Tag verstorbenen Carlo Schmid. Ein bedeutender Parlamentarier, einer der Väter des Grundgesetzes, der auch mal Minister gewesen ist."
    Erzählt Friedhelm Wollner, bis zu seiner Pensionierung Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, der sich vom Tag der Erfindung Mierscheids bis heute um den Schriftverkehr des fiktiven Abgeordneten kümmert. Väter hat der 1979 geschaffene Abgeordnete aber drei:
    "Den Namen hat Karl Haehser beigesteuert, die Geburtsdaten haben wir dann von Dietrich Sperling genommen. Und von Peter Würtz den zweiten Vornamen. Nämlich Maria. Jakob Maria Mierscheid."
    Das Leben des Hinterbänklers ist schnell erzählt: Geboren am 01. März 1933 in Morbach im Hunsrück, verwitwet, Vater von vier Kindern. Schwerpunkte seines politischen Wirkens: allgemeine Sozialfragen, Probleme der Berufsausbildung, die Untersuchung des Nord-Süd-Gefälles in Deutschland und die Aufzucht der geringelten Hauben-Taube in Europa.
    "Der Hintergrund ist eigentlich, dass die drei auch der Auffassung waren, dass der trockene Parlamentsbetrieb in Bonn eigentlich eine Auflockerung brauchte. Und etwas Humor brauchte. Daneben auch eine Figur brauchte, die auch in der Lage war, Dinge zu sagen, die ein normaler Abgeordneter so nicht sagen konnte. Weil es ihm übel genommen worden wäre."
    Mierscheid konnte. Und kann. Anfang letzten Jahres geißelte er die "Merkel-Murkelei" der Regierung oder machte sich Gedanken zum Schwabenproblem im Prenzlauer Berg. Dass für fundierte Kritik an der Regierung manchmal nur wenige Worte nötig sind, demonstrierte er vor zweieinhalb Jahren. Als das schwarz-gelbe Kabinett einen Bericht zum demografischen Wandel beriet:
    "Gesellschaft alt
    Jugend gut
    Regierung schlecht
    Zukunft offen
    Glück auf."
    Nur einmal soll es Ärger gegeben haben. Und einen Rüffel vom damaligen Parteivorsitzenden Franz Müntefering. 2005, so wird erzählt, habe Mierscheid "Ulla Schmidt" als Unwort des Jahres vorgeschlagen haben. Wollner dementiert sofort:
    "Er hat mir nie erzählt, dass Franz Müntefering ihn gerügt habe."
    Und zu dementieren gab es häufiger etwas. Vor allem, wenn andere versuchten, den guten Ruf des Abgeordneten für sich zu nutzen. Oder gar, ihn, den Sozialdemokraten, abzuwerben.
    Sogar Film wurde auf Mierscheid aufmerksam
    "Als die Linken erklärt haben, 2005, Mierscheid sei zu Ihnen übergetreten, da musste sofort reagiert werden. Es gab ungezählte Medienanrufe, Mails, SMS, die sofort beantwortet werden mussten. Und dann hat die Pressestelle der SPD-Bundestagsfraktion dabei geholfen, das ganz schnell wieder einzusammeln. Sonst wäre das nicht beherrschbar gewesen. Und es hätte sich festgesetzt: Mierscheid hätte die SPD verlassen. Was er nie tun würde."
    Immerhin hat er sich um die Partei verdient gemacht.Das weiß auch Bundestagspräsident Norbert Lammert von der CDU zu würdigen:
    "Seine bisher denkwürdigste Leistung ist die Formulierung des Mierscheid’schen Gesetzes. Über den Zusammenhang zwischen deutscher Rohstahlproduktion und Wahlergebnissen der SPD bei Bundestagswahlen."
    "Herr Mierscheid ist ein über alle Fraktionen hinweg anerkannter, vielleicht sogar beliebter Abgeordneter."
    Sagt Sören Roos, der Leiter der Abteilung Information und Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages. Bei so viel Beliebtheit musste es ja so kommen. Der Film wurde auf ihn aufmerksam.
    "Mein Name ist Jakob Maria Mierscheid. Ich bin seit vielen Jahren Bundestagsabgeordneter."
    Mierscheid im Deutschen Dom in Berlin den Besuchern der Bundestags-Ausstellung "Wege - Irrwege - Umwege" - in mehreren Filmen den Alltag eines Abgeordneten. Seine Scheu hat er dabei nicht ganz abgelegt, sagt Sören Roos:
    "Seltsamerweise ist es unserem Kamerateam nie gelungen, Herrn Mierscheid selbst vor die Kamera zu holen."
    Meistens dreht der Akteur den Zuschauern Rücken oder Seite zu. Dabei war es gar nicht so einfach, das Bundestagspräsidium davon zu überzeugen, das JMM genau der richtige für den Job war. Bestechenstes Argument: Ein fiktiver Abgeordneter leistet sich keine Skandale. Und das ist vielleicht das Wichtigste in der heutigen Zeit.