Archiv


Selektionsdruck durchs Milieu

Der amerikanische Philosoph und Psychologe James Mark Baldwin ist inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten. Zu seiner Zeit gehörte er aber zu den international bekanntesten Forschern auf dem Gebiet von Erkenntnistheorie, Entwicklungspsychologie, Psychiatrie und Evolutionstheorie.

Von Hans Martin Lohmann | 12.01.2011
    James Mark Baldwin hatte Philosophie in Princeton studiert, bevor ihn im Alter von 23 Jahren ein Forschungsstipendium nach Deutschland brachte. Das Deutsche Reich war gegen Ende des 19. Jahrhunderts das weltweit führende Wissenschaftsland. Vor allem seine Studien bei dem berühmten Leipziger Gelehrten Wilhelm Wundt, Begründer der experimentellen Psychologie, sollten Baldwins Entwicklung nachhaltig beeinflussen.

    Zurück in den Vereinigten Staaten, befasste sich Baldwin, der am 12. Januar 1861 in Columbia im US-Bundesstaat South Carolina geboren wurde, zunächst mit den Anfängen der Psychologie bei Kant, Herbart, Fechner und Lotze, ehe er sich eigenen Forschungsvorhaben zuwandte. Sein ausgeprägter Hang zur Sammlung und Systematisierung des Wissens führte 1891/92 zur Veröffentlichung des "Handbook of Psychology" und ein Jahr später der "Elements of Psychology", die ihn in der amerikanischen Wissenschaftslandschaft bekannt machten. Seinen internationalen Durchbruch erlebte er mit seinem Buch über "Das Denken und die Dinge oder Genetische Logik". Über den ersten Band urteilte der britische Philosoph und Logiker Bertrand Russell:

    "Es ist jetzt die Zeit für einen Neubau der ganzen Wissenschaft der Logik, und zwar auf der Grundlage einer genetischen Erklärung unseres wirklichen Erkennens."

    Damit ist das Stichwort – "genetisch" – geliefert, das für Baldwins philosophische und psychologische Erkenntnistheorie zunehmend Bedeutung gewinnt: Es geht um die Frage, auf welchem Wege sich beim Individuum die Fähigkeiten herausbilden, die notwendig sind, um die objektiven Gegebenheiten unserer Welt zu erfassen und kognitiv zu verarbeiten. Baldwin erforscht die Entstehung der subjektiv-psychologischen Seite der Erkenntnis, das heißt den "subjektiven Faktor", der seit Berkeley und Kant die erkenntnistheoretische Debatte bestimmt. So kommt er zu dem programmatischen Schluss:

    "dass das Kriterium des Logischen als solchen nicht allein in dem Gegenstand des Nachdenkens zu finden ist, sondern ebensowohl in der Art und Weise, wie wir darüber nachdenken; nicht allein in den Faktoren, welche das 'Was' bestimmen, aus dem das Objekt besteht, sondern in den Faktoren der Kontrolle, die auf die Frage, 'wie' es entsteht, Antwort erteilen."

    Dass Baldwin, der sich auch intensiv mit Problemen der kindlichen Entwicklung beschäftigte, heute so gut wie vergessen ist, mag nicht zuletzt damit zu tun haben, dass ein anderer Zeitgenosse ihm rasch den Rang abgelaufen hat. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts war es der Wiener Arzt und Psychologe Sigmund Freud, der, weil er von der Triebseite der menschlichen Entwicklung ausging, ganz andere und überzeugendere Antworten auf die Frage nach den bestimmenden Faktoren in der Psychogenese des Subjekts und seines Erkenntnisvermögens fand. Gegen Freud und seine Schule hatte Baldwin auf Dauer keine Chance.
    Nach Aufenthalten in Toronto, Princeton und Baltimore, wo er sich um die Institutionalisierung der experimentellen Psychologie verdient machte, ging Baldwin 1908 nach Paris – nicht ganz freiwillig offenbar, wurde er doch mit einem Sexskandal in Verbindung gebracht, der im protestantisch-prüden Amerika eine Karriere vernichten konnte. In Paris forschte und lehrte er bis zu seinem Tod im Jahre 1934.

    Wenn etwas von Baldwin geblieben ist, das bis heute in der Wissenschaft diskutiert wird, dann ist es der nach ihm benannte "Baldwin-Effekt". Er spielt im Zusammenhang der Evolutionstheorie Jean Baptiste de Lamarcks und der modernen Soziobiologie eine Rolle. Der Effekt besagt, dass es einen Mechanismus gibt, der das menschliche Genom durch epigenetische Faktoren in gleichem Maße oder sogar noch stärker beeinflusst, als es die natürliche Selektion vermag. Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett erklärt es so:

    "Wenn Individuen in ihrem Milieu besonders fördernde und günstige Umstände für sich entdecken, dann bewirkt diese Entdeckung einen neuen Selektionsdruck: Lebewesen, die in engem Kontakt mit dieser Entdeckung leben, besitzen einen klaren Vorteil gegenüber jenen, die ihr ferner sind."

    Freilich bleibt umstritten, wie diese äußeren Umstände beschaffen sein müssen und durch welchen psychischen Mechanismus sie sozusagen verinnerlicht werden, um ein neues Selektionsmuster hervorzubringen. Faszinierend und für die Wissenschaft herausfordernd aber ist James Mark Baldwins Gedankenexperiment allemal. Mit Recht ist diese Herausforderung bis heute mit seinem Namen verbunden.