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Sensible Winzlinge

Flechten sind winzig klein und geben sich mit wenig zufrieden. Sie wachsen auf Steinen, rostigem Metall oder Baumrinde. Allerdings reagieren sie extrem empfindlich auf Luftschadstoffe und Klimaveränderungen. Biologen haben einen Artenrückgang um rund ein Drittel beobachtet.

Von Carolin Hoffrogge | 11.02.2013
    "Wir stehen gerade vor der Tür unseres Instituts in Göttingen, und da haben wir einen schönen alten Götterbaum stehen. Auf diesem Götterbaum dann finden Sie sehr viele Flechten. Das ist der graugrünliche Belag."

    Markus Hauck ist einer der führenden Flechtenexperten Europas. Der Göttinger Biologieprofessor steht vor einem 80-jähigen dicken Götterbaum und zeigt auf die Patina, die den starken Baum vor seinem Institut überzieht. Gräulich grünliche Flechten.

    "Flechten sind keine einzelnen Organismen, sondern Lebensgemeinschaften, Symbiosen aus unterschiedlichen Organismengruppen, einmal aus Pilzen und dann aus Algen. Die Algen betreiben Photosynthese, stellen so organische Stoffe bereit, Kohlenhydrate, die von beiden Partnern der Lebensgemeinschaft, sowohl vom Pilz als auch von der Alge verbraucht werden."

    So wie sich Markus Hauck auf Flechten spezialisiert hat, zählte auch Bäckermeister Heinrich Sandstede aus Bad Zwischenahn emsig Flechten. Mit Kartierungsbuch und Stift ist er durchs Oldenburger Land gezogen und hat vor knapp 150 Jahren alle Flechtenarten aufgenommen, sie akribisch dokumentiert. Durch Sandstedes Sisyphusarbeit haben die Göttinger Biologen heute optimales Zahlenmaterial. Sie können ihre jetzt gezählten Flechtenarten mit denen von damals vergleichen.

    "Dort, wo der Herr Sandstede gearbeitet hat, da gab es über 200 Arten insgesamt, von diesen ganz genau 214 Arten sind 77 Arten ausgestorben. Die kommen da heute nicht mehr vor. Ein Drittel. Wir haben ähnliche Untersuchungen auch in anderen Gebieten in Norddeutschland gemacht, im Solling, da gibt es auch alte Daten aus dem 19. Jahrhundert. Da gab es einen Herrn Beckhaus, der war Pastor in Höxter an der Weser. Der hat dort auch schon intensive Untersuchungen gemacht. Wir haben genau das gleiche Ergebnis; auch dort sind ein Drittel der Arten ausgestorben."

    Ein Drittel aller Flechten, die im norddeutschen Raum auf Pflanzen, Baumrinden oder Totholz wachsen, sind verschwunden. Die Forscher um Markus Hauck reagieren alarmiert. Denn im Gegensatz zu Farnen und Blütenpflanzen nehmen Flechten Stoffe über ihre gesamte Oberfläche auf, reagieren somit auf den Kohlendioxidausstoß und Feinstaub besonders sensibel. Darüber hinaus setzt die Säge der Forstwirte den Flechten zu, sagt Christof Leuschner, Professor für Ökosystemforschung an der Universität Göttingen.

    "In der Waldwirtschaft ist das sicherlich der Hauptgrund, dass die Altersphase, das natürliche Sterben der Wälder, dass das nicht mehr vorkommt. Ein Buchenwald wird geerntet, wenn er 120 Jahre alt ist, ein Fichtenwald schon eher, wenn er 80 Jahre alt ist. Und normalerweise würde eine Fichte 300 Jahre alt werden können, eine Buche auch 250 Jahre. Diese Altersphase ist ein Lebensraum für ganz viele Organismen, die auf der Rinde leben, und da diese Phase komplett fehlt, ist dieser Lebensraum komplett verschwunden."

    Gemeinsam mit Naturschutzverbänden plädieren die Göttinger Professoren, fünf bis zehn Prozent der Bäume alt und knorrig wachsen zu lassen. Außerdem sollen sie sich später langsam als Totholz zersetzen. Neben der intensiven Ernte der hiesigen Wälder setzt auch ihre jahrhundertelange immer noch anhaltende Entwässerung den Flechten zu, so Markus Hauck. Denn wird dem Boden Wasser entzogen, ändert sich damit auch die Feuchtigkeit der Luft, Flechten sterben aus. Zudem macht Ökosystemforscher Leuschner den stattfindenden Klimawandel für den Flechtenschwund verantwortlich. Er warnt: Je artenärmer ein Lebensraum sei, desto schlechter könne er seine Funktionen erfüllen.

    "Wahrscheinlich ist die hohe Artenvielfalt in Ökosystemen eine Versicherung. Diese Arten dienen für die Zukunft, also das ist ein Versicherungsprinzip, was wir in anderen Bereichen der Wirtschaft ja auch machen. Die Natur hat es angelegt, und wir dürfen ihr diese Fähigkeit nicht nehmen. Sicherlich kennen wir auch noch nicht alle Funktionen von Flechten, die sind vermutlich in der Regel geringer als von Tieren oder höheren Pflanzen, das mag so sein, aber wir wissen gar nicht, wie ein Waldökosystem in hundert Jahren bei einer Temperatur um drei Grad höher reagiert."

    Ihre Ergebnisse bereiten die Göttinger Biologen jetzt in einer allgemeinverständlichen Broschüre für die Politik, für Umweltverbände und den Naturschutz auf.