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Sozialer Frieden in Gefahr

Unterschicht - schon das Wort erregt Anstoß. Der neokonservative Historiker und Soziologe Paul Nolte empfahl ihr eine bürgerliche Leitkultur. Andere nennen sie lieber "abgehängtes Prekariat". Nun widmet sich Inge Kloepfer, Wirtschaftsredakteurin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, dem Thema. "Aufstand der Unterschicht" heißt ihr neues Buch. Darin zeigt sie, "was auf uns zukommt" - wie es im Untertitel heißt. Ralph Gerstenberg hat es gelesen und sich mit der Autorin unterhalten.

10.11.2008
    Jascha ist neunzehn Jahre alt und verbringt einen Großteil seiner Zeit im Internetcafé, hängt mit Freunden ab, spielt Computerspiele, trainiert seine Muskeln. Die Schule hat er in der neunten Klasse abgebrochen. Die Lehrer waren froh, den Störenfried endlich los zu sein. Nun lebt er in einer Wohnung, die vom Staat bezahlt wird, und kriegt jeden Monat Arbeitslosengeld II. Als "Asi", so sieht er sich selbst, als Versager.

    Dass er dem Steuerzahler seit jeher auf der Tasche liegt, dass er sich sozusagen durchschnorrt, seit seine Mutter vor ihrer Erziehungsaufgabe kapituliert hat, weiß er sehr wohl. "Was ist die Gesellschaft nett zu mir!", kontert er mit einer gehörigen Portion Zynismus. "Aber es steht mir zu. Ich halte mich für den Arbeitsmarkt zur Verfügung. Nur hat bisher keiner nach mir gefragt. Bin ich also dafür verantwortlich?"

    "Die Jaschas dieser Republik findet man in Berlin auf der Straße. Man kann einfach irgendwelche Typen ansprechen, die zum Beispiel an den U-Bahn- und S-Bahnhöfen alte Fahrkarten verkaufen."
    Inge Kloepferhat das getan und dabei ihren Jascha gefunden, dessen Werdegang sie in ihrem Buch "Aufstand der Unterschicht - was auf uns zukommt" als typisches Beispiel für eine Karriere ins Abseits nachzeichnet.

    "Jascha ist keine Kunstfigur, sondern eine Figur, die es gibt und die auch ziemlich genau so ist, wie sie in dem Buch dargestellt wird, gleichwohl natürlich bestimmte Rahmendaten verändert werden mussten, um die Person zu schützen. Ich fälle ja sehr harte Urteile. Er steht für mich als Prototyp derer, die chancenlos bleiben werden und die in unserer Gesellschaft auch scheitern werden."

    Jaschas Mutter, mit den fünf Kindern als Alleinerziehende gnadenlos überfordert, verdient sich als Kassiererin in Billigdiscountern zur Sozialhilfe was dazu. Seine Geschwister und er bleiben einen Großteil des Tages sich selbst überlassen. Das Jugendamt ist Dauergast in der Sozialwohnung, in der sich Jascha ein Zimmer mit zwei jüngeren Schwestern teilt. Der verhaltensauffällige Junge wird als Achtjähriger für ein Vierteljahr in eine Sonderschule mit angeschlossener Psychiatrie eingewiesen. Danach wird die Straße zu seiner Erziehungsanstalt. Mutproben befestigen den Platz in der Clique. Die Schule gerät immer mehr aus dem Blickfeld. Wozu lernen in einer Gesellschaft, in der die soziale Herkunft über die Zukunft eines Menschen entscheidet? Jeder fünfte Jugendliche ist laut PISA nicht ausreichend gebildet, um in der Arbeitsgesellschaft später einen Platz zu finden. Doch die geplanten Bildungsoffensiven der Politik, so notwendig sie auch sein mögen, greifen zu kurz, meint Inge Kloepfer.

    "Die allgemeine Lösung heißt immer: Bildung, Bildung, Bildung. Das wir so oft gesagt, dass wir das alle schon nicht mehr hören können: Ja, ja, jetzt kommen die Politiker wieder mit ihrer Bildung. Was ganz schlimm ist, weil das natürlich der Kernpunkt ist. Also habe ich mich gefragt: Wann fängt denn das an? Wann fängt eigentlich Bildung an? Und bin darauf gekommen, dass Bildung von Kindern, also die Grundausbildung, schon ganz früh anfängt, mit dem ersten Tag in den Familien. Dann kommen Sie dahin, dass man was für Familien tun muss, dass man Familien in die Lage versetzen muss, ihren Kindern diese Grundausbildung mit auf den Weg zu geben, damit sie dann in der Schule nicht von vornherein aussortiert werden - oder schon im Kindergarten. Bildung ist von mir aus gesehen viel umfassender zu begreifen als nur Schule - zum Beispiel."
    Den Lebensweg Jaschas ergänzt Inge Kloepfer durch Textpassagen, in denen sie die Spaltung unserer Gesellschaft reflektiert. Sie zeigt, wie der Staat sich Ende der Achtziger Jahre bei zunehmender Massenarbeitslosigkeit aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen hat. Das Resultat sind Viertel, in denen keine Integration mehr stattfindet. Ob in der Schule oder im Kiez - die Unterschicht bleibt unter sich. In einem Exkurs konfrontiert Inge Kloepfer ihren Protagonisten mit dem imaginären Lebensweg eines Gleichaltrigen aus der Mitte der Gesellschaft. Als Beispiel dient ihr ein Junge, den Jascha und seine Clique vor Jahren verprügelt und aus ihrem Wohnviertel vertrieben haben.

    Was die Eltern vielleicht über Jahre nicht hatten sehen wollen, begriffen sie spätestens in dem Moment, da ihr Sohn zum Opfer wurde. Nicht nur vor weiteren Übergriffen wollten sie ihn bewahren, sondern auch vor dem Umgang mit "falschen" Freunden, vor der miesen Gesellschaft, die ihn womöglich nachteilig beeinflussen, nach unten ziehen oder sonst wie vereinnahmen würden. Für ihr einziges Kind hatten und haben die Eltern wahrscheinlich andere Pläne. Aus ihm soll etwas werden. Dass der Sohn ein Hochschulstudium absolvieren wird - daran besteht überhaupt kein Zweifel.
    "Echt? Das wissen die schon?", fragt Jascha dazwischen."


    "Das war interessant, weil er sich zum Beispiel überhaupt nicht vorstellen konnte, dass sich Eltern, wenn sie Kinder haben, von vornherein darüber Gedanken machen, was eigentlich aus denen werden soll: dem gebe ich eine gute Ausbildung, der soll natürlich Abitur machen und am besten noch studieren, ins Ausland gehen und so. Und da kamen dann schon ganz interessante Reaktionen von ihm, weil er das alles nicht hatte. Und das ist für mich das Gefährliche eigentlich auch, dass wir hier Jugendliche haben, Kinder und Jugendliche, die nichts mehr voneinander wissen, nichts über ihre Lebenswelt, über ihr Aufwachsen, die aber irgendwie alle in einem Land leben müssen zusammen. Wie sollen die denn später kommunizieren?"
    Im Gegensatz zu Franz Müntefering hat Inge Kloepfer kein Problem mit dem Begriff "Unterschicht", um das Phänomen eines abgehängten Prekariats zu beschreiben - auch wenn das Wort politisch nicht besonders korrekt klingt.

    "Wenn ich sage, dass unsere Gesellschaft keine Schichten hat, dann werde ich das Problem niemals erkennen und werde das Problem auch nicht angehen. Insofern ist Unterschicht natürlich ein sehr drastischer Begriff, aber er muss einfach gesagt werden, damit wir irgendwann mal was tun."
    Was passiert, wenn nichts getan wird, beschreibt Inge Kloepfer gleich zu Beginn ihres Buches. Ein Zukunftsszenario aus dem Jahr 2020: In der Münchner Innenstadt probt die Unterschicht den Aufstand. Verarmte Menschen, die wie Wohlstandsmüll ausgesondert und am Rand der Gesellschaft entsorgt wurden, nehmen sich, wovon sie glauben, dass es ihnen zusteht. Der soziale Frieden ist ebenso gefährdet wie der Lebensstandard einer alternden Gesellschaft, in der immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Ruheständler aufkommen müssen. Die Sozialsysteme drohen zusammenzubrechen.

    "Wenn Sie jetzt aber noch von jedem jungen Jahrgang 20 Prozent, also jeden fünften, haben, der im Grunde gar nicht mithalten kann, der der Gesellschaft auch noch zur Last fällt, dann wird es natürlich noch viel schwieriger, im Produktivitätswettbewerb zu bestehen. Mal ganz abgesehen davon, dass es ethisch und moralisch nicht zu verantworten und auch nicht zu ertragen ist, dass wir hier eine Schicht haben von Kindern und Jugendlichen, die im Grunde systematisch schon aussortiert sind - von Geburt an, kann man schon sagen."

    Inge Kloepfers Buch "Aufstand der Unterschicht" ist Sozialreport, Gesellschaftsanalyse und ein Plädoyer für mehr Chancengerechtigkeit. Die Zahlen und Fakten in dem Buch sind bekannt. Soziologen wie Martin Kronauer, Heinz Bude und Hartmut Häußermann, die von Inge Kloepfer zitiert werden, beschäftigen sich seit Jahren mit neuer Armut, Exklusion und Überflüssigkeit. Der Verdienst von Inge Kloepfer ist es jedoch, mit ihrem eindringlichen Porträt der Analyse Bodenhaftung zu geben, zu zeigen, wie jemand tickt, der von Geburt an keine Chance hat. Das Scheitern Jaschas offenbart das Versagen unserer Gesellschaft, die es sich auf Dauer weder aus sozialen, noch aus wirtschaftlichen Gründen leisten können wird, solche wie ihn einfach abzuschreiben.

    Inge Kloepfer "Aufstand der Unterschicht - was auf uns zukommt", Hoffmann und Campe, 302 Seiten, 19,95 Euro

    Deutschlandfunk-Interview mit der Autorin