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Buddhismus
Das letzte Gedicht des Zen-Meisters

Der japanische Zen-Buddhismus kennt ein poetisches Sterberitual: Große Lehrer zeichnen vor dem Tod ein Gedicht auf, in dem sie die Weisheit ihres Lebens zusammenfassen. Ihre Schüler sammeln die Werke, geben sie an die Nachwelt weiter - und legitimieren damit auch ihre Religion.

Von Mechthild Klein | 29.08.2018
    Mönche während einer Zazen-Meditation in Japan.
    Es ist ein Ideal, dass buddhistische Meister im Umgang mit dem Tod souverän bleiben (imago / Ursula Gahwiler)
    Nach einem alten japanischen Ritual fasst ein buddhistischer Meister am Ende des Lebens die ganze Essenz seiner Erfahrung in einem Gedicht auf dem Sterbebett zusammen. Diese Vermächtnisse von Zen-Mönchen oder auch Haiku-Dichtern sammelten ihre Schüler viele Jahrhunderte lang.
    Zum Beispiel der berühmte Zen-Meister Enni Ben'en, der am 17. Tag des zehnten Monats 1280 starb. Der Überlieferung zufolge war der Zen-Meister erkrankt. Er kündigte seinen Schülern an, dass er demnächst sterben werde. Doch die Schüler glaubten ihm nicht. An seinem letzten Tag, ließ Enni die Trommel schlagen und seinen bevorstehenden Tod ausrufen. Es wird berichtet, dass er sich auf einen Stuhl setzte und sein Todesgedicht schrieb, dann starb er. Sein Sterbegedicht ist überliefert:
    Ein ganzes Leben lang habe ich die Menschen Zen gelehrt
    79 Jahre.
    Wer die Dinge nicht sieht, wie sie sind,
    Wird niemals Zen verstehen.
    "Das ist ja Teil einer Inszenierung des Todes großer Meister gewesen. Heutzutage werden diese Inszenierungen nicht mehr so durchgeführt", sagt die Heidelberger Religionswissenschaftlerin Inken Prohl. Die Tradition der Sterbegedichte ist alt:
    "Wenn es um Zen-buddhistische geht, dann kann es die in Japan erst ab dem 13. Jahrhundert geben. Wenn es um buddhistische Sterbebettgedichte geht, dann finden sie die gegebenfalls seit dem achten Jahrhundert."
    Der Tod als Fenster zur Transzendenz
    Die Inszenierung des Todes und der Sterbegedichte spielte in den buddhistischen Schulen eine große Rolle, sie untermauerte die Legitimation der Lehrer, sagt Inken Prohl. Und der Tod sei das Fenster zur Transzendenz, zur Erleuchtung.
    "Weil mit dem Tod kriegen die Erleuchteten die endgültige Erleuchtung. Und wenn dann ein großer Zen-Meister stirbt, dann verwirklicht er im Moment des Sterbens die Erleuchtung. Und deshalb können die ihm zugeschriebenen Worte, die er im Prozess des Sterbens äußert... ja das sind so Spuren, aber auch Beweise der Erleuchtung. Und deshalb wurden die Worte dokumentiert und protokolliert, wie überhaupt der gesamte Prozess des Sterbens der großen Meister protokolliert wurde im Zen-Buddhismus, aber auch in anderen buddhistischen Traditionen."
    Ein anderes Beispiel ist der Zen-Mönch Gizan Zenrai, gestorben 1878. Dies sind seine diese letzten Worte:
    "Ich wurde in die Welt geboren
    und verlasse sie mit dem Tod
    Tausend Städte habe ich besucht
    An tausend Herden gesessen -
    Was sind sie alle?
    Nur Mondschein auf dem Wasser,
    eine Blume am Firmament.
    Ho!"
    Die Bilder für den Tod und die Erleuchtung sind Japanern sehr vertraut: Der Mond, der sich im Wasser spiegelt, die Blätter der Kirschblüten oder ziehende Wolken.
    Den Zugriff auf das Transzendente beweisen
    Inken Prohl: "Häufig wird gesagt, in den Traditionen über den Tod der großen Meister, dass in dem Moment wundersame Gerüche zu riechen waren, dass mysteriöse Klänge zu hören waren oder dass plötzlich Kraniche über den Himmel geflogen sind. Also so multisensorische Erlebnisse, die man nicht immer hat und die sollen hindeuten auf die Erleuchtung, die dem Meister ja zugeschrieben wird, in dem Moment des Sterbens. Und diese Gegebenheiten wurden aufgeschrieben, dass ist Hagiographie, das ist ganz wichtig für die Geschichte des Zen-Buddhismus, weil sie wie andere Religionen ja auch immer wieder belegen und bestätigen müssen, dass ihnen ein Zugriff auf das Transzendente möglich ist."
    Es ist ein Ideal, dass buddhistische Meister im Umgang mit dem Tod souverän bleiben. Dass sie bis zuletzt im Kreise ihrer Schüler lehren und aufrecht sitzend in Meditationshaltung sterben. Auch der Umgang mit den sogenannten Koan, den paradoxen Geschichten zwischen Meister und Schüler, soll den Erleuchtungsgeist spiegeln. Inken Prohl sagt: Die Worte seien "Umschreibungen, Einkreisungen der Erleuchtung". Und die wirkungsvollste Umschreibung der Erleuchtung geschehe durch die Hand des Meisters im Tod.
    "Diese Kalligraphien, die diese letzten Worte des Meisters ausdrücken, die stehen dann auch neben seinem Sarg. Und die werden dann gehütet wie ein Schatz. Und wir haben auch Kalligraphien, wo die Schrift dann ganz krakelig ist, das ist ja fast schon ganz unheimlich, dass man Zeuge des Leidens- oder Sterbeprozesses wird, dadurch dass sich die Schrift verändert."
    Eine Anekdote warnt Zen-Mönche sogar davor, sich zu sehr auf die Außenwirkung der Gedichte zu konzentrieren.
    Da heißt es: Ein Zen-Priester in Kizu übernahm von seinem Vorgänger einen Tempel, dort begegnete einem Geist. Es stellte sich heraus, dass der Geist, der Zen-Priester war, der vor ihm dort lebte. Der Geist sagte: In meiner Todesstunde war ich so sehr auf meine äußere Erscheinung fixiert, dass es mir nicht gelang in die nächste Welt einzugehen. Der Zen-Priester betete darauf für den Geist und dieser erschien nicht wieder.
    Manch ein Zen-Meister verweigerte sich
    Die Botschaft der Anekdote ist offenkundig: Mit dem letzten Gedicht sollte man bei anderen nicht Eindruck schinden wollen, das ist eben kontraproduktiv.
    Es gibt übrigens Zen-Meister, die sich weigerten, Todesgedichte zu schreiben. Einige sagten sogar: "Ich will nicht sterben!"
    Wenn das Leben der alten Zen-Meister zu Ende geht, versammeln sie ihre Schüler um sich, verschenken ihre Sachen. Das letzte Gedicht ist wohl schon vorbereitet. Zumindest wenn die Meister diese Tradition fortführen wollen.