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Sportmedizin
Schuss vor den Bug

Eltern und Ex-Fußballer haben die FIFA und den US-Verband verklagt, weil sie Regeländerungen erzwingen wollen. Der Umgang der Organisationen mit Gehirnerschütterungen ist ihnen zu lax, wo jedes Jahr zehntausende Spieler betroffen sind – und zwar überproportional Mädchen und Frauen.

Von Jürgen Kalwa | 06.09.2014
    Der deutsche Fußball-Nationalspieler wird während des WM-Finales 2014 gegen Argentinien vom Platz geführt, nachdem er mit einem Gegenspieler zusammengestoßen war.
    Der deutsche Nationalspieler Christoph Kramer wird während des WM-Finales 2014 benommen von den Ärzten vom Platz geführt. (dpa/picture alliance/Chema Moya)
    An einem Samstag während der WM in Brasilien herrschte auf einem Nebenplatz des Stadions der Profis von D.C. United reger Betrieb. 400 junge Fußballer in Washington beim lockeren Training. Eine Werbeveranstaltung für Talente. Die Sportart ist auf dem Vormarsch in Amerika. Besonders stark: die Altersgruppe unter 18. Die US Soccer Federation - der nationale Fachverband - nennt in den offiziellen Statistiken eine Zahl von etwas mehr als drei Millionen Aktiven. Die Hälfte Jungen, die Hälfte Mädchen.
    Viele von ihnen sind ganz besonders aktiv. Die ehrgeizigeren kommen auf 100 Spiele und mehr pro Saison, weil sie neben der Schulmannschaft noch für zwei oder drei andere Teams unterwegs sind. Mit der Intensität wächst das Risiko. Keine Sportart produziert bei Mädchen und Frauen mehr Kopfverletzungen als Fußball. Eine Faustregel besagt, dass sie doppelt so oft Gehirnerschütterungen erleiden wie Jungen und Männer. Die Zahlen gehen amerikaweit jedes Jahr in die Zehntausende.
    Viele der Betroffenen erleiden im Laufe der Karriere mehrere Schläge. Sie riskieren Langzeitschäden - von Depression bis zu reduzierter geistiger Leistungsfähigkeit. Chris Nowinski, ehemaliger Wrestler, Harvard-Absolvent und seit zehn Jahren einer der prominentesten amerikanischen Aktivisten im Kampf gegen die Ignoranz von Verbänden und Öffentlichkeit: "Im Fußball muss etwas geändert werden. Die Frage ist: wie schnell gelingt das? Und wie viel Druck müssen wir ausüben?"
    Zwei Spielerinnen haben Klage eingereicht
    Erheblicher Druck kommt seit Ende August erstmals über das amerikanische Rechtswesen. Denn eine Gruppe von Eltern und zwei Spielerinnen haben in San Francisco eine Klage eingereicht. Ihr Anwalt Steve Berman macht vor allem die FIFA verantwortlich."Die FIFA und die wichtigen amerikanischen Fußball-Organisationen haben es versäumt, Regeln einführen, um mit Gehirnerschütterungen umzugehen."
    Die Sammelklage ist - sehr unamerikanisch - mit keiner Schadenersatzforderung verbunden. Alles was sie durchsetzen will, sind verbindliche Vorschriften. Die Forderung passt allerdings zeitlich gut in die Landschaft. Denn während der WM in Brasilien zeigte sich erneut, wie nonchalant Verantwortlichen das Problem einstufen. "Die FIFA ist grausam", sagte Taylor Twellman, Fernsehkommentator und Ex-Profi und einer der schärfsten Kritiker im Deutschlandfunk: "Wenn sie sich nicht darum kümmert, wird wohl erst jemand sterben müssen, ehe etwas passiert."
    In den USA, wo das Schicksal ehemaliger Football-Profis die Menschen sensibilisiert hat, reicht die Missbilligung bis hin in die Politik. Der amerikanische Kongressabgeordnete Bill Pascrell schrieb Sepp Blatter einen Brief und forderte ihn auf, "sich mit der unangemessenen Vorgehensweise" der FIFA im Umgang mit traumatischen Kopfverletzungen zu beschäftigen.
    Blatter antwortete nicht, sondern verkündete in der Hauszeitung "FIFA Weekly", das Thema sei von "höchster Priorität". Wie sieht die aus? Man betreibt ein Forschungsprojekt in der Schweizer Profi-Liga. In Vereinen, in denen Teamärzte auf der Bank sitzen.
    Die FIFA ist nicht alarmiert
    Dazu passt, was FIFA-Chefmediziner Jiri Dvořák unlängst in New York am Rande einer Fachtagung internationaler Verbände und Ligen sagte. Eine Veranstaltung, die kurioserweise hinter verschlossenen Türen stattfand: "Wir sind nicht alarmiert", erklärte der Neurologe.
    Tatsächlich zeigt eine Sportart mit ähnlichen Problemen, was getan werden könnte. Im Rugby etwa müssen Spieler mittlerweile beim Verdacht auf Gehirnerschütterung einen Tag aussetzen - egal ob der Unfall im Training passiert oder im Spiel. So bleibt Zeit, um die Auswirkungen eines Zusammenpralls ärztlich abklären zu lassen. Amerikanische Bundesstaaten wie Ohio oder Georgia haben mittlerweile sogar sogenannte "Return to Play"-Gesetze erlassen, die strikt ähnliche Interventionen verlangen.
    Ganz im Sinne von "Soccer Moms" wie Katherine Snedaker. Die Mutter dreier Söhne aus Neu-England bemüht sich schon seit geraumer Zeit mit viel Energie in einer klassischen Netzwerk- und Aufklärungskampagne darum, dass die Fußballverantwortlichen endlich ernst machen. Sie betreibt zwei Webseiten - sportsCAPP.com und pinkconcussions.com und erwartet unter anderen, dass für Trainer und Betreuer eine Pflichtschulung eingeführt wird, in der sie alles Wesentliche über das vielschichtige Symptombild lernen.
    "Die FIFA redet viel. Aber sie tut nichts. Die Frage ist doch: Wer bringt die Mannschaften und Vereine dazu, die Vorschläge tatsächlich umzusetzen, die es bereits gibt? Die FIFA hat das mit plötzlichem Herzstillstand getan. Sie hat es mit Dopingmitteln getan."
    Im Kontrast dazu trifft das Thema in Deutschland bisher auf wenig Widerhall. Wie wenig? Es reicht die Lektüre von offiziellen Broschüren für Jugendbetreuer wie der des Berliner Fußballverbands. Dort wird das Wort Gehirnerschütterung nur einmal kurz erwähnt. Direkt vor dem Thema Fußpilz, wozu es einen ganzen Absatz gibt. Trotzdem fehlt es an einer rechtlichen Handhabe, sagen Sportrechtsexperten. Der Druck muss von woanders kommen.