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Leidenschaft, die Leiden schafft

Was können Regeln leisten, um die Aktiven in harten Mannschaftsportarten vor Gehirnerschütterungen und deren Langzeitfolgen zu schützen? Die Frage wird in den USA im Eishockey und im American Football immer intensiver diskutiert. Der Druck auf die Ligen ist groß. Ehemalige Profis haben die NFL auf Schadensersatz verklagt, der sich auf zig Millionen Dollar belaufen könnte

Von Jürgen Kalwa | 14.01.2012
    Man kann es im Fernsehen kaum hören. Denn das Ganze passiert in Bruchteilen von Sekunden und wird vom Lärm der zehntausenden im Stadion übertönt.

    Es ist das Geräusch, das entsteht, wenn Football-Spieler mit voller Wucht aufeinander prallen. Mit der Energie eines Vorschlaghammers. Rohe Emotion trifft Haut, die zu Markt getragen wird. Es ist der Soundtrack von Amerikas populärster Sportart, die den Eindruck erweckt, als habe das Land eine perverse Lust an Knochenbrüchen, Bänderrissen, Gehirnerschütterungen und gesundheitlichen Langzeitschäden.

    Szenenwechsel. Denn auf den Eisflächen von Nordamerika geht es nicht minder herbe zu. Leidenschaft nennt Sydney Crosby das, der beste Spieler in der National Hockey League. "Eine Leidenschaft, die uns alle zusammenbringt.”

    Leidenschaft, die Leiden schafft. Der Kanadier spürt sie am eigenen Leib. Kaum hatte er eine elfmonatige Zwangspause hinter sich, fiel er Anfang Dezember erneut aus. Der Grund war beide Male der gleiche. Eine schwere Gehirnerschütterung.

    Der Kapitän der Pittsburgh Steelers ist nicht der einzige Starspieler in der Liga, der zur Zeit nicht mal Schlittschuhlaufen kann. Über Chris Pronger von den Philadelphia Flyers schrieb neulich die Zeitschrift "Hockey News": Er stolpert herum, vergisst regelmäßig einfache Dinge und ihm ist permanent schwindlig. Er wird die gesamte Saison ausfallen.

    Paul Caponigri, einst Minor League-Profi, heute Fernseh- und Radiokommentator und vielbeachteter Eishockey-Blogger, hat so etwas noch nie erlebt.

    ""Vor allem bei den namhaften Spielern war es noch nie so schlimm. Vor den Regeländerungen war das Spiel langsam, man konnte mit seinem Schläger einen Gegner stören und ihn festhalten. Das war nicht attraktiv. Aber es gab nicht so viele gefährliche Attacken wie jetzt. Die Zusammenstöße passieren überall - an der Bande, in der Mitte der Eisfläche. Allein drei der Stars wurden jedoch von ihren eigenen Mannschaftskollegen verletzt. Je schneller das Spiel, desto schneller musst du reagieren.”"

    Die Regeländerungen, von denen Paul Caponigri spricht, wurden von der National Hockey League vor ein paar Jahren beschlossen, um den Würgegriff der Verteidiger auf das Spiel zu beenden. Man wollte Kufenkünstlern und Stocktechnikern die Eisfläche öffnen und dem Publikum mehr Tore bieten. Die Idee war gut. Die nicht beabsichtigte Konsequenz jedoch ist schlecht. Brutal schlecht. Auch für die Liga, die sich mehr und mehr in der Vermarktung darauf konzentriert, mit den großen Namen zu werben.

    Wie sollte man auf eine solche Situation reagieren? Paul Caponigri sieht da eigentlich nur eine Möglichkeit: Eine neue Regel einführen.

    ""In den letzten zwei Jahren hat es viele Diskussionen gegeben: Was ist noch regelgerecht an einer Attacke Richtung Kopf und was nicht? Irgendwann kannst du das nur noch schwarz-weiß sehen. Dann ist egal, ob jemand absichtlich auf den Kopf zielt und eine Gehirnerschütterung verursacht. Man muss ihn bestrafen, damit es nicht mehr passiert.” "

    Wahrscheinlich wäre das Thema nicht so brisant, wenn nicht die Wissenschaft seit kurzem ein dramatisches Szenario ausweisen würde. Die vielen Gehirnerschütterungen in den harten Mannschaftssportarten in Amerika sind der Grund dafür, dass Spieler nach der Karriere früher an Demens und Alzheimer erkranken, depressiv werden und sich in einigen Fällen sogar das Leben nehmen. Diese Gefahr wurde von den Ligen jahrelang ignoriert. Man wollte nicht das Macho-Image aufs Spiel setzen, das seit über hundert Jahren etwa die Sportart American Football geprägt hat.

    Das ist tausenden von ehemaligen NFL-Profis kein Trost. Eine ganze Reihe von ihnen hat denn auch die National Football League bereits auf Schadensersatz verklagt. Die größte Gruppe - 106 Betroffene - zog am Montag in Philadelphia vor Gericht. Einer ihrer Rechtsanwälte ist Richard Lewis von der Kanzlei Hausfeld in Washington, die auf Wiedergutmachungsansprüche spezialisiert ist - sei es im Sport oder im Fall von Nazi-Opfern:

    ""Die Anklage zielt darauf ab, dass die Spieler keine Wahl hatten. Ihnen fehlte das Wissen, um zu entscheiden, ob sie das Risiko auf sich nehmen wollten. Es geht um Schadensersatz für die Spieler, ihre Frauen und ihre Familien. Wir haben eine zweite Klage eingereicht, die dafür sorgen soll, dass Spieler untersucht werden, die bisher noch nicht diagnostiziert worden sind, aber lange gespielt haben. Was die Regeln angeht: Dazu werden sicher Experten im Prozess aussagen. Aber wir als Anwälte fühlen uns nicht berufen, dazu Stellung zu nehmen.”"

    Die Klage soll eine Schadensersatzsumme von mehr als fünf Millionen Dollar erstreiten. Eine Sprecherin der Liga wies die Anschuldigungen zurück: "Die NFL hat niemals die Spieler in die Irre geführt, was die Risiken des Footballspiels angeht. Für jede andersartige Andeutung gibt es keine Grundlage.”