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Sprache beeinflusst das Sehen

Wenn zwei Menschen dasselbe sehen, sehen sie nicht dasselbe. Das haben Sprachforscher aus Heidelberg bewiesen. Ein Engländer zum Beispiel sieht definitiv nicht dasselbe wie ein Deutscher. Und das liegt an der Grammatik der Sprache.

Von Matthias Hennies | 13.03.2008
    Die kurzen Filme sind nicht gerade Kandidaten für den Oscar. Man sieht nur zwei Frauen auf ein Tor zugehen oder einen Mann eine Leiter zu einem Balkon hochsteigen oder zwei Männer auf einem See surfen. Alltagsszenen, die sich in kurzen Sätzen zusammenfassen lassen.

    Und darauf kommt es an. Sprachforscher der Universität Heidelberg setzen diese Filme ein, um herauszufinden, wie die menschliche Wahrnehmung funktioniert. Sie bitten Versuchspersonen unterschiedlicher Muttersprachen, einen Film wiederzugeben. Und an der Zusammenfassung erkennen sie, worauf sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer richtet, ob einer sich auf die beiden Frauen konzentriert, auf das Tor, auf das sie zugehen, oder auf den Weg, auf dem sie laufen.

    "Da gibt es in der Kognitionspsychologie eine relativ reiche Forschung, dass beispielsweise Bewegtes Aufmerksamkeit anzieht, dass Belebtes Aufmerksamkeit anzieht, dass Gesichter Aufmerksamkeit anziehen, natürlich Unbekanntes Aufmerksamkeit anzieht. Da gibt es eine große Tradition von Studien, die das gezeigt haben."

    Bisher schien die Sache klar, berichtet Christiane von Stutterheim, Professorin in Heidelberg. Man glaubte, in der ganzen Welt seien die Faktoren gleich, die Aufmerksamkeit erwecken. Doch ihre Kollegin Barbara Schmiedtova hat nun Erstaunliches herausgefunden: So simpel eine Filmszene auch ist, Deutsche sehen sie anders als zum Beispiel Engländer.

    "Die werden eher sagen: 'Two women are walking'. Während die Deutschen mit Vorliebe sagen würden: 'Zwei Frauen laufen auf ein Tor zu.'"

    Engländer konzentrieren sich auf den Verlauf der Handlung, Deutsche nehmen das Ziel wahr. Und Dr. Schmiedtova ist überzeugt: Das liegt an der Grammatik der beiden Sprachen. "Walking": Die Verlaufsform auf "-ing" ist im Englischen sehr gebräuchlich. In der deutschen Sprache dagegen gibt es keine Verlaufsform - höchstens holprige Notlösungen wie "sie sind am Gehen", die nur selten verwendet werden und in der korrekten Hochsprache auch nicht vorgesehen sind.

    Wird also das, was man in einer Situation wahrnimmt, durch die grammatische Struktur der Muttersprache vorgeschrieben? Am Beispiel der Verlaufsform hat Schmiedtova eine empirische Untersuchung gemacht. Und siehe da, bei den anderen Filmen trat dasselbe Phänomen auf. Wo die Deutschen sagten "Männer surfen auf einem See", formulierten die Engländer knapp "men are surfing". Und wenn Deutsche meinten "Ein Mann steigt eine Leiter zu einem Balkon hoch", hieß es auf Englisch nur "A man is climbing a ladder". Also: Deutsche nennen den Endpunkt der Handlung, Engländer beschreiben den Verlauf - weil ihre Sprache es so will. Aber lenkt die Grammatik auch die zugrunde liegende, vor-sprachliche Wahrnehmung? Christiane von Stutterheim:

    "Jetzt kann man erst mal sagen, unterschiedliche sprachliche Formen führen zu einem unterschiedlichen sprachlichen Produkt. Und nun waren wir interessiert, inwieweit diesen unterschiedlichen sprachlichen Darstellungen auch tatsächlich unterschiedliche kognitive Planungsprozesse vorausgehen."

    In einer zweiten Versuchsserie installierte das Team eine Apparatur, die die Augenbewegungen der Versuchsperson aufzeichnete, während der Film lief. Die neuen Experimente bestätigen Schmiedtovas Resultate:

    "Und man sieht, dass Deutsche sich viel früher mit dem Endpunkt, also den fokussieren und zu diesem Endpunkt auch zurückkehren. Die Englischsprachigen gucken sich das auch erst mal an, aber erstens viel später als die Deutschen, und sie verweilen dort auch nicht so lange."

    Barbara Schmiedtova und ihre Kollegen haben die Filme nicht nur Engländern und Deutschen gezeigt, sondern insgesamt 170 Versuchspersonen aus sieben Ländern. Danach konnten sie die sieben Sprachen in zwei Gruppen einteilen: Auf den Verlauf einer Handlung konzentrieren sich Engländer und Araber, Russen und Spanier. Holländer, Tschechen und Deutsche beobachten stärker den Endpunkt, das Ziel einer Handlung.

    Auch diese Verteilung ist erstaunlich: Englisch und Deutsch etwa haben sich aus denselben Wurzeln entwickelt und fallen doch nicht in dieselbe Gruppe. Offensichtlich ist die Entstehung der Sprachen nicht für die Übereinstimmung verantwortlich - und auch der kulturelle Hintergrund nicht:

    "Wenn wirklich Sprachen, die kulturell einen Gegensatz bilden wie das Arabische einerseits und das Englische einerseits, in eine Gruppe fallen, dann kann das Kulturelle das ja auf keinen Fall erklären."

    Nein, die Gemeinsamkeit liegt in der Grammatik. Aber was ist die Ursache für die Ähnlichkeit in der arabischen und der englischen Grammatik? Oder dafür, dass das Tschechische, Schmiedtovas Muttersprache, aus den slawischen Sprachen herausfällt?

    "Das Tschechische fällt sozusagen aus der Reihe, weil sich das Tschechische weder wie das Polnische noch das Bulgarische noch das Russische verhält, obwohl das System sehr ähnlich ist. Aber man darf eine Sache nicht unterschätzen, und das ist Sprachkontakt."

    Rund 400 Jahre dauerte die Herrschaft der Habsburger in Böhmen, die Herrschaft einer deutschsprachigen Führungsschicht. Der intensive Sprachkontakt hat eben Spuren in der tschechischen Grammatik hinterlassen, meint die Wissenschaftlerin. Sie will nach der Verlaufsform jetzt die Auswirkung anderer grammatischer Strukturen vergleichen: Welche Bedeutung hat der Handelnde, welche hat das Objekt der Handlung in verschiedenen Sprachen?

    Ein Ergebnis ist schon klar: Grammatische Strukturen, die man als kleines Kind erlernt hat, bestimmen, worauf man sein Augenmerk richtet. Wohin einer zuerst guckt, was er länger und was er kürzer betrachtet, hängt von der Sprache ab. Sind die Faktoren, die die menschliche Wahrnehmung lenken, also nicht universal? Die Basis ist bei allen Menschen gleich, meint Christiane von Stutterheim, aber sobald die kognitiven Vorgänge differenzierter werden, wirkt sich die Grammatik der Muttersprache aus:

    "Ich denke, das ist tatsächlich eine Ausdifferenzierung. Das ist eine weitere Ausbuchstabierung unserer kognitiven Fähigkeiten, die im Kern sicherlich zurückzuführen sind auf ein paar grundlegende Eigenschaften der menschlichen Natur, aber das ist eben kulturell überformt, und eine Komponente der Kultur ist natürlich unsere Sprache, und das ist das, was unsere kognitive Verarbeitung steuert."