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Sticker-Ausstellung
Die Macht der Aufkleber

Aufkleber werden derart massenhaft in der Werbung eingesetzt, dass sie kaum als etwas Besonderes wahrgenommen werden. Das wiederum ärgert Oliver Baudach, der in Berlin ein Stickermuseum betreibt. Dort ist am Wochenende die Ausstellung "Paper Bullets" eröffnet worden – auf Deutsch "Papiergeschosse".

Von Oliver Kranz | 15.09.2014
    Ein Aufkleber gegen Homophobie klebt an einem Laternenpfahl.
    Aufkleber sind ein ideales Medium für politischen Protest. Sie sind klein aber auffällig, preiswert, aber leicht zu verbreiten. (dpa/Wolfram Steinberg)
    "Ich habe angefangen, Aufkleber zu sammeln, als ich im Jahr 2003 zum ersten Mal in Berlin war. Ich hatte so was noch nie gesehen. Die Sticker klebten überall – mit ihren Botschaften und künstlerischen Statements. Ich habe mich sofort in sie verliebt. So etwas gibt es in den USA nicht."
    Catherine Tedford ist Galeristin in St. Lawrence im Bundesstaat New York. Dort wird spätestens seitdem New York City mit einer Nulltoleranzpolitik gegen Ordnungswidrigkeiten aller Art Erfolge feiert, sehr darauf geachtet, dass die Städte sauber bleiben.
    "Man sieht immer noch Studenten, die Aufkleber auf ihren Laptops haben und auf ihren Rucksäcken. Sie kleben sich auch immer noch ihre Kühlschränke voll. Aber in der Öffentlichkeit sieht man Aufkleber eher selten."
    Es sei denn, die Bevölkerung ist unzufrieden. Als George W. Bush Präsident war, tauchten überall Anti-Bush-Sticker auf. Aufkleber sind ein ideales Medium für politischen Protest. Sie sind klein aber auffällig, preiswert, aber leicht zu verbreiten.
    "Wenn Du Graffiti sprühst, bist du an einer Stelle, machst vielleicht was Großes, aber es ist nur diese eine Stelle. Du kannst bei einem Sticker zu Hause in aller Ruhe an einem Motiv arbeiten, konzentriert. Und dann hast du es hundertfach in der Tasche und kannst die Stadt damit voll machen",
    sagt Oliver Baudach, der im Berliner Szenebezirk Friedrichshain ein Stickermuseum eingerichtet hat. Dort präsentiert er die Ausstellung von Catherine Tedford – 500 Aufkleber mit klaren politischen Botschaften.
    "Diese hier wurden schon 1915 hergestellt – von einer Industriearbeitergewerkschaft. Sie wurden in Millionenauflagen gedruckt. Aber heute sind sie kaum noch zu finden."
    Gute Sticker müssen überraschen
    Catherine Tedford meint die sogenannten Stickerettes, Papierbilder, deren gummierte Rückseite man anlecken musste, um sie anzukleben. Sie kritisierten schlechte Arbeitsbedingungen und den Kapitalismus an sich. Im Zweiten Weltkrieg wurden Stickerettes als Flugblätter abgeworfen. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff "Papiergeschosse", den Catherine Tedford als Ausstellungstitel verwendet. Gute Sticker müssen den Betrachter überraschen, findet die Amerikanerin.
    "Es geht nicht darum, dass Text und Bild sich gegenseitig illustrieren. Es muss eine Reibung da sein. Dann wird es interessant."
    An den Prinzipien der grafischen Gestaltung hat sich in den 100 Jahren, die man in der Ausstellung durchschreiten kann, erstaunlich wenig geändert. Die Texte sind kurz, die Buchstaben groß, die Bilder zeigen meist Vertrautes auf eine ungewöhnliche Weise. George Bush als Lügner mit einer langen Nase, Putin als Spinne, Jane Fonda als Pin-up-Girl vor einer Zielscheibe. Manches ist schwer zu verstehen, vor allem wenn man nicht weiß, wann und in welchem gesellschaftlichen Kontext die Aufkleber entstanden sind. Kommentierende Texte fehlen.
    Und das trifft auch auf die Dauerausstellung des Stickermuseums zu. Oliver Baudach sammelt seit 30 Jahren und besitzt fast 30.000 Aufkleber. Zu seinen Prinzipien gehört, nur neue Exemplare auszustellen. Catherine Tedford hingegen pult Sticker gern auch von den Wänden ab – vor allem, wenn sie im Ausland unterwegs ist.
    "Manchmal werde ich dafür kritisiert. Es gibt die Auffassung, dass die Aufkleber auf die Straße gehören und dass man sie nicht aus ihrem Kontext herauslösen darf. Aber es gibt auch andere Meinungen, denn ein Sticker, der irgendwo draußen an einer Wand klebt, bleibt dort sowieso nicht für immer. Entweder er wird vom Regen aufgeweicht oder von der Stadtreinigung entfernt. Die Aufkleber, die ich sammle, werden archiviert. Die meisten findet man heute auf der Straße gar nicht mehr."
    Catherine Tedford ist stolz, in ihrem Archiv ein Stück Zeitgeschichte zu sichern. Mehr als 2.000 Aufkleber hat sie eingescannt, nach Ort, Zeit und Thema geordnet und auf der Website der St. Lawrence University, New York, zugängig gemacht. Die Ausstellung, die sie nun in Berlin präsentiert, zeigt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtbestand – die Aufkleber mit den stärksten politischen Botschaften.