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Stimme der Opposition

Was wir als fast grenzenloses World Wide Web kennen, ist auf Kuba nicht mehr als ein von oben gefiltertes, staatliches Intranet. Dennoch findet die kubanische Internetgemeinde Mittel und Wege, die staatliche Zensur zu umgehen: Die dortige Bloggerszene wächst stetig an, und zu ihren Heldinnen gehört Yoani Sanchez.

Von Peter B. Schumann | 05.07.2010
    Sie hat mit ihrem Blog die inner-kubanische Opposition verändert und eine ganz neue friedliche Form des Widerstands gegen das Regime der Brüder Castro begründet. Dabei schreibt sie doch nur Texte, berichtet über den schwierigen Alltag, über Transport- und Versorgungsprobleme, über Abgründe der Wohnungsnot, der Arbeitsbeschaffung und der medizinischen Betreuung oder über die Absurditäten des Spitzelwesens und der polizeilichen Kontrolle: Phänomene, die jedem Kubaner vertraut sind. Im April 2007 hat sie damit begonnen, und heute – drei Jahre später – gibt es Hunderte meist jüngerer Blogger, die ihrem Beispiel gefolgt sind und mit ihren kritischen Beiträgen im Internet die Zensur unterlaufen. Die Dissidenz hat endlich eine ständige Plattform gefunden. Die "Alma Mater" der Bewegung heißt Yoani Sánchez:

    "Meine Absicht war es von Anfang an, das Alltagsgeschehen wiederzugeben, die Fragen, die uns beschäftigen, die Analysen, die wir anstellen. All das, was in den offiziellen Medien keinen Platz findet und was ich einen Journalismus von kritischen Bürgern nennen möchte. Wenn ein Kubaner aber eine solche Meinung gedruckt verbreitet, gilt das als Feindpropaganda. Das Internet ist dagegen ein Raum, den die Regierung nicht regulieren, nicht beschränken kann. So konnten wir die Mauer des Schweigens einen Spaltbreit öffnen."
    Millionen Nutzer rufen das Tagebuch von Yoani Sánchez jeden Monat auf. Mit Hunderten, manchmal Tausenden von Kommentaren reagieren die Leser auf ihre Notizen. Ihr Blog hat sich längst zum Diskussionsforum entwickelt. Ihre kritischen Reflexionen über den kubanischen Alltag erreichen oft auch per E-Mail – das immerhin gibt es im innerkubanischen Intranet – den letzten Winkel des Landes oder werden sogar auf Minidisc verbreitet. Sie nennt ihren Blog Generation Y, weil sie sich damit vor allem an ihre Generation wendet, an die in den 70er- und 80er-Jahren Geborenen.

    "Generation Y ist kein politisches Projekt, sondern die persönliche Katharsis eines Individuums, das frustriert ist über die Situation und sich Fragen stellt und mitteilen will, was es tagtäglich denkt und erlebt. Der Blog hat sich also für mich in einen Exorzismus verwandelt. Ich brauche ihn jeden Tag, um meine Dämonen los zu werden: die Apathie, die Angst, die Paranoia, das Desinteresse, die Gleichgültigkeit. Der Blog ist für mich zu einer Notwendigkeit geworden."
    In 16 Sprachen erscheint er inzwischen, und eine erste umfangreiche Auswahl ihrer Beiträge liegt nun auch in Buchform auf deutsch vor: "Cuba libre. Von der Kunst, Fidel Castro zu überleben".

    "Dadurch, dass ich meine Anonymität aufgebe und meine Texte verbreite, kann ich verhindern, von einer Maschinerie verschlungen zu werden, der schon viele Kubaner zum Opfer gefallen sind. Da diese Menschen mit weniger öffentlichen Mitteln als dem Internet ihr Missfallen kundtaten, konnte der Staat sie zum Schweigen bringen, ohne dass die Welt davon Notiz genommen hätte."
    So schreibt Yoani Sánchez in ihrem Vorwort. Die 220 Seiten Texte, die dann folgen, sind nicht chronologisch geordnet und auch nicht datiert. Das kann man bedauern. Aber sie hat sie in einem kurzen Zeitraum von gut zwei Jahren verfasst, in dem sich die Zustände nicht wesentlich verändert, eher verschlimmert haben.

    "Ich lebe eine Utopie, die nicht die meine ist. Eine Utopie, für die meine Großeltern ihr Leben gegeben und meine Eltern ihre besten Jahre geopfert haben. Für mich ist sie eine Last, sie drückt mich nieder, aber ich weiß nicht, wie ich sie abschütteln kann. Manch einer, der diese Utopie nicht erlebt hat, will mir einreden, dass man sie bewahren muss. Aber solche Leute können eben nicht ermessen, wie unfrei es macht, die Träume anderer mit sich herumzuschleppen und mit Illusionen zu leben, die einem eigentlich fremd sind. All denen, die mir – ohne mich zu fragen – dieses unselige Trugbild verordnet haben, sei es gleich gesagt: Ich denke nicht daran, es auch noch meinen Kindern zu vermachen."
    Dieses Bekenntnis gegen "die verordnete Utopie" bildet den Auftakt ihres Buches. Und beweist zugleich die Formulierungskunst der früheren Sprachwissenschaftlerin. Ihr Blog ist keine Ansammlung schlichter Tagebucheinträge, wie sie vielfach durchs Internet schwirren. Yoani Sánchez formuliert ihre Eindrücke im Bewusstsein der Verantwortung einer Autorin, die sich inzwischen an eine Millionen-Leserschaft wendet. Sie beschreibt konkret, ohne Abschweifungen, zielgerichtet auf den Schluss des Textes hin, keiner ist länger als eineinhalb Seiten. An ihrem Ende findet sie oft ein starkes Bild, in dem sie ihre Geschichte resümiert – wie in einem Beitrag über den ungebärdigen Rapper Gorki, der verurteilt werden sollte wegen "vorkrimineller Gefährdung" – so der offizielle Vorwurf.

    "Wahrscheinlich wird es seinem Verteidiger in der Verhandlung am nächsten Donnerstag gelingen, den Staatsanwalt davon zu überzeugen, dass Gorkis Frisur, seine Musik und das Dröhnen seiner Gitarre nicht gefährlicher sind als die Gleichgültigkeit, die Anpassung und die Doppelmoral, die unser Leben prägen."
    Yoani Sánchez ist zu einer mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichneten Autorität geworden: zu einer neuen, einflussreichen Stimme der Opposition. Der larmoyante Diskurs, die verbale Aggressivität und die emotional aufgeladene Rhetorik vieler älterer und auch mancher jüngerer Vertreter der Dissidenz sind ihr fremd. Sie bleibt an der Sache orientiert: der Kritik an "einer von Gleichgültigkeit und Verfall geprägten Wirklichkeit" und einem Staat, "der mit zentralistischen Maßnahmen, Kontrollen, Drohungen und harter Hand das zu regeln versucht, was nur mit einer Öffnung, mit Raum für Privatinitiativen, Freiheit und Reformen zu bewältigen wäre."
    Mit ihrem Blog hat Yoani Sánchez vielen Oppositionellen in Kuba einen Weg gewiesen, wie sie ihren Widerstand artikulieren können und zwar nach innen wie nach außen. Das Regime kann zwar die Autorin verfolgen und – wie vor Kurzem – sogar zusammenschlagen lassen, und es kann auch Dutzende von systemtreuen Bloggern, sogenannten "Internet-Lakaien", ins Netz schicken. Aber die Lawine an Gegeninformation, die Yoani Sánchez losgetreten hat, fand längst weltweit Ausläufer. Die gedruckte Sammlung ihrer Beiträge ist eine vortreffliche Ergänzung der digital verbreiteten Erkenntnisse und eine spannende Lektüre, bietet sie doch selten zugängliche, erhellende und erschreckende Einblicke in die Lebenswirklichkeit der Kubaner.

    Yoani Sanchez: Cuba Libre. Von der Kunst, Fidel Castro zu überleben. Das Buch ist im Heyne Verlag erschienen, hat 256 Seiten und kostet 16,95 Euro, ISBN: 978-3-453-16737-7. Peter B. Schumann hat das Buch für uns rezensiert.