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Suche nach dem Kern der Kulturwissenschaften

Der Begriff der Kulturwissenschaften ist nicht fest definiert. Ein Nachschlagewerk sammelt nun Schlüsselwerke, die nach Ansicht der Herausgeber wegweisend für dieses interdisziplinäre Fach sind.

Von Ingeborg Breuer | 31.01.2013
    "Als ich 2007 die Leitung des KWI übernommen habe, da habe ich die Frage gestellt, welchen Kulturbegriff haben sie eigentlich? Und es ist dann das Übliche bei Wissenschaftlern, man stutzt bei einer solchen Frage. Es ist dasselbe Stutzen wie bei Studenten, wenn sie von Onkel und Tante gefragt werden, du studierst ja jetzt Kulturwissenschaft, was machst du denn da? Und wir dann komplizierte Antworten geben können. So kam ich also in diese Institutskollegiumsversammlung und habe gefragt, was haben sie für einen Kulturbegriff. Und stelle dann fest, dass wir keinen hatten."
    Was ist der Kern der Kulturwissenschaften? Womit beschäftigt sie sich? Fragen, die trivial scheinen. Doch wie Professor Claus Leggewie, Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, gerade feststellte - es gibt keine einfachen Antworten darauf. Bis vor 100 Jahren war der Begriff ohnehin nahezu unbekannt. Professor Darius Zifonun, Mitherausgeber der "Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften":

    "Max Weber hat schon Anfang des 20. Jahrhunderts von den Kulturwissenschaften gesprochen. Zu einem Modebegriff oder einem neuen Konzept, mit dem man versucht hat, die Wissenschaften neu zu konzeptualisieren, wurde das aber erst seit 20 oder 30 Jahren."

    Seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts dient der Begriff einer Neubestimmung dessen, was vordem unter "Geisteswissenschaften" verstanden wurde. Denn während die Geisteswissenschaften sich in hoch spezialisierte Einzelfächer aufteilen und sich der Suche nach Wahrheit oder einer universalen Struktur des Denkens verpflichtet fühlen, verstehen die Kulturwissenschaften sich fächerübergreifend und pluralistisch.

    "Geisteswissenschaften und Kulturwissenschaften sind nicht identisch. In den Geisteswissenschaften finden wir noch zum großen Teil die Vorstellung, dass man über den Geist zur Wahrheit vordringt. Und deswegen ist der Wahrheitsbegriff ganz zentral. Während kulturwissenschaftlich wir uns eher mit der Frage beschäftigen, wie wir eigentlich unsere Welt zu einer Wirklichkeit machen."

    Wir machen aber unsere Welt zu einer Wirklichkeit, indem wir ihr Bedeutungen verleihen. Und Kultur, so schrieb der Anthropologe Cliffort Geertz, sei dieses "selbstgesponnene Bedeutungsgewebe". Kultur, das ist also die Art, wie der Mensch sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt, Normen für das Zusammenleben mit anderen Menschen entwickelt, Vergangenes tradiert und natürlich - nicht zuletzt - seine Zeit künstlerisch zum Ausdruck bringt. Der Sinn der Kulturwissenschaften ist dann, dieser "Kultur als Gewebe von Bedeutungen" nachzuspüren, schreiben die Autoren in ihrer Einleitung. Und zwar unter Zuhilfenahme aller wissenschaftlichen Disziplinen.

    "Wir nehmen die klassischen Kulturfächer wie die Sprache, die Literatur. Wir nehmen aber auch die Bereiche, die mit der Philosophie und Psychologie zusammenhängen, auch die stärker auf Anwendungsfelder hin orientierte Fächer wie Geografie oder Politik."

    Wie interdisziplinär der Zugang der Forscher am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen zu den Fragestellungen der Zeit ist, zeigt sich zum Beispiel in ihrem Projekt "Klimakultur". Gilt der Klimawandel gewöhnlich als ein Thema für Naturwissenschaft und Politik, so untersuchen die Kulturwissenschaftler, wie die Gesellschaft mit dem Problem einer ökologischen Wende umgeht: Warum das Wissen um die Folgen übermäßigen Energieverbrauchs kaum zu Verhaltensänderungen führt. Welche Folgen klimatische Veränderungen auf Machtverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen haben. Klimaforschung, Geografie, Politik, Sozialwissenschaften, Sozialpsychologie vernetzen sich miteinander, ohne dass eine Wissenschaft den Vorrang vor den anderen beansprucht.

    Zifonun: "Wir verstehen die Kulturwissenschaften im Plural als ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in dem ganz unterschiedliche Forschungstraditionen und -disziplinen zusammenkommen und nicht verschmelzen in einer neuen Kulturwissenschaft, sondern sich in ihrer Pluralität erhalten oder sogar vermehren."
    Eine Pluralität von Zugängen zu den Kulturwissenschaften zeichnet auch das Buch der Essener Forscher aus. Es soll gerade keinen Kanon erschließen, keine "Standardwerke der Kulturwissenschaften" vorstellen. Sondern die Auswahl der Texte entsprang der konkreten Arbeit am Institut.

    Leggewie: "Man erschließt das über bestimmte Lieblingswerke, die für den einen oder die andere in der eigenen wissenschaftlichen Entwicklung aufschlussreich waren, geradezu die Augen geöffnet haben, was Kultur ist. Und insofern war das eine sehr subjektive Auswahl und das sieht man dem Buch auch an."

    Und so finden sich in dem Band 106 Einführungen in Werke aus Soziologie, Philosophie, Ethnologie, Ökonomie oder Psychologie. Ein Essay über den Mythos des Prometheus, der den Menschen das Feuer - und damit Fortschritt und Aufklärung - bringt, findet sich ebenso darin, wie über Homers Odysseus, der - gleich den Migranten der heutigen Welt - heimatlos wird. Selbst Stanley Kubricks "2001 Odyssee im Weltraum" findet Beachtung, habe er doch den Science-Fiction-Film erstmals zur - bis heute gültigen - Kunstform erhoben.

    Leggewie: "Also auch ein Film von Kubrick zum Beispiel oder eine große Dichtung wie die Odyssee oder ein großer Roman wie Musils "Mann ohne Eigenschaften", die haben so viel kulturwissenschaftliche Einsichten formuliert, dass es eigentlich schade wäre, sie nicht zu den Schlüsselwerken zu rechnen."

    Das Buch enthält keine Originaltexte, sondern kurze Zusammenfassungen und Interpretationen des jeweiligen Schlüsselwerks. Warum, erläutert Darius Zifonun:

    "Wir haben das mit großer Absicht gemacht. Wir wollen kommentieren und Thesen formulieren. Was wir leisten wollen, ist auch ein alternatives Angebot zum Griff nach Wikipedia. Wir wissen aus der Lehre, dass viele Studierende reflexartig Wikipedia anklicken, um sich zu orientieren und sich damit aber nicht wissenschaftlich sozialisieren, sondern sich der Illusion hingeben, es gebe ein gesichertes Wissen über diese Werke."

    Nun ist das Buch erschienen, die Arbeit ist getan. Die Selbstverständigung der Wissenschaftler über ihren Gegenstand gelaufen. Hat Claus Leggewie, der Direktor des Instituts, nun einen Begriff von seinem Fach entwickelt?

    "Ich hab keinen. Ich brauche keinen. Kultur, die Kulturwissenschaften beschäftigen sich immer damit, nicht wie die Dinge sind. Also wie unsere Gesellschaft ist, steht nicht fest, sondern wird dadurch zu einem kultur- und sozialwissenschaftlichen Datum, weil wir darüber reden und wir die Dinge auch sehr unterschiedlich bewerten können. Also nicht von einem vorgefertigten Konsens auszugehen, sondern davon auszugehen, dass zwischen den Menschen, den Gemeinschaften, den Kulturen, dass man hier nicht zu einem festen Schluss kommen kann, so ist also die Welt. Sondern dass die Welt permanent durch die Blickwinkel der anderen auch eine andere Gestalt annehmen kann."
    Buchinfos:
    Leggewie/Zifonun/Lang/Siepmann/Hoppen: "Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften", Transcript-Verlag