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Suche nach den verlorenen Werten

Trau keinem, der einen Zusammenhang zwischen Rudi Dutschkes fettigen Haaren und einem angeblichen Zusammenbruch von Moral und Ordnung herbei argumentiert, es könnte ein neuer Spießer sein, zumindest, wenn man ihn anhand der Kriterien des Buches "Die neuen Spießer" von Christian Rickens kategorisiert. Agnes Steinbauer hat das Buch gelesen und mit dem Autor gesprochen.

18.12.2006
    Wenn Christian Rickens an Deutschland denkt, bringt ihn vor allem eine Sache zum Gähnen: Die Debatten um den angeblichen Verfall unserer Werte und die damit einhergehenden Warnungen vor dem Niedergang von Familie, Glaube und Vaterland. In den Feuilletons der Zeitungen, in unzähligen Talkshows und politischen Debatten, seien, so Rickens, mittlerweile in schöner Regelmäßigkeit Meinungsmacher dem Untergang des Abendlandes auf der Spur. Der Autor, Wirtschaftswissenschaftler und Redakteur des "Manager Magazins", hat sich deshalb seinerseits auf Spurensuche begeben: auf die Suche nach den verlorenen Werten. Gefunden hat er hauptsächlich "wolkige" Behauptungen und Moralapostelei aus der Gartenzwerg-Perspektive der, wie er sie nennt, neuen Spießer:

    "Es ist eine neue neokonservative Denkrichtung. Man versucht, die Missstände vom politischen System wegzunehmen und hinzuverlagern zur Gesellschaft. Das ist eine typisch konservative Tendenz, dass man sagt: Nicht das System kann schuld sein, denn das ist ja per se in Ordnung, sondern mit den Menschen ist etwas nicht in Ordnung, und da ist der Dreh zu den neuen Bürgerlichen als Elite, diejenigen, die diese Fehler in der Politik verschuldet haben, das sind ja häufig die Leute, die diese neue Bürgerlichkeit predigen.""

    Das täten nicht nur Politiker, sondern auch prominente Journalisten, wie der Chef des ZDF-Hauptstadtstudios, Peter Hahne, Vertreter der wissenschaftlichen Eliten oder bekannte Verteidiger des Rechtsstaates, etwa der Verfassungsrichter Udo di Fabio. Für den Autor sind ihre Thesen gesellschaftlicher Sprengstoff, mit dem Deutschland in die 50er Jahre zurück gebombt werden soll, Anschläge auf ein mühsam erworbenes Klima von Toleranz und Liberalität nach der miefigen Adenauer-Ära.

    Solche manchmal platt und überspitzt klingenden Aussagen könnten dazu verleiten, das Buch als flapsige Verschwörungspolemik eines Vertreters der Spaßgesellschaft wegzulegen. Das sollte man sich aber überlegen, denn Rickens analysiert die "fatale Sehnsucht der neuen Spießer nach einer überholten Gesellschaft" scharfsinnig und solide und kommt dabei leider zu erschreckend plausiblen Ergebnissen. In zehn Kapiteln nimmt er die gesellschaftlichen Bereiche genauer unter die Lupe, in denen neubürgerliche Trendsetter die Rückkehr zu traditionellen Werten besonders anmahnen. Im Kapitel über den "Niedergang der Familie" etwa gibt der Autor Einblick in die vorgestrige Gedankenwelt eines Vertreters der geistigen Elite Deutschlands - in die des Medienwissenschaftlers an der TU Berlin, Norbert Bolz. Zitat:

    "Reiche erobern, Kunstwerke schaffen, an den gnädigen Gott glauben oder Kinder zeugen, so kann man sich der eigenen Unsterblichkeit versichern."

    "Helden der Familie" heißt das Buch, in dem die "Bolz‘schen Evolutionsgesetze" weiter lauten:

    "Frauen mögen Männer, die karriereorientiert, fleißig und ehrgeizig sind. Denn evolutionstypisch tauschen Frauen Sex gegen Ressourcen, während Männer Ressourcen gegen Sex tauschen."

    Für die klassische Familie mit berufstätigem Ehemann und einer Mutter/Hausfrau haben die "neuen Kulturrevolutionäre" laut Bolz nur Hohn und Spott übrig. Das "Eva-Prinzip" der Ex-Tagesschau-Sprecherin Herman passe da schon eher ins neubürgerliche Weltbild, Zitat:

    "Es ist die Frau, die in der Wahrnehmung ihres Schöpfungsauftrages die Familie zusammenhalten kann. […] Es ist selbstverständlich, dass auch Frauen [...] Aufgaben außerhalb der Familie übernehmen, wenn sie das Talent dazu haben, doch das sollte in Maßen geschehen."

    "Ganz wichtiges Kennzeichen: Die 'neue Bürgerlichkeit" ist ein männliches Phänomen. Eva Herman ist die einzige nennenswerte Autorin in diesem Zusammenhang, kein Wunder, denn wer lässt sich schon, außer Eva Herman, freiwillig zurück an den Herd verbannen?","

    fragt sich Rickens und setzt wissenschaftliche Fakten belegt durch eine umfangreiche Bibliografie in seinem Buch gegen neubürgerliche Behauptungen, zum Beispiel:

    ""Dieser Mythos, dass Fremdbetreuung Kindern schade und dass deshalb ein Elternteil möglichst lange zu Hause bleiben müsse, das was zum Beispiel Peter Hahne fordert, dieser Mythos lässt sich nun wirklich wissenschaftlich eindeutig widerlegen. Das könne man sogar im Familienbericht der CDU-Ministerin von der Leyen nachlesen."

    Nichts gegen eine Hochzeit in Weiß, mit dazu gehöriger Familie und Reihenhaus, meint Rickens; ein Trend, der in der Shell-Jugendstudie 2006 deutlich werde. Politisch brisant sei jedoch, dass die neuen Spießer, zu denen Rickens auch bekannte Multiplikatoren wie "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher oder "Spiegel"-Kulturchef Matthias Mattusek zählt, mit ihren "verquasten" Begriffen von gesellschaftlichem Zusammenhalt auf wenig Gegenwehr stoßen. Natürlich, so der Autor, gebe es viele unbewältigte Probleme hierzulande, aber mit "reaktionärem Stammtischgequatsche in pseudo-intellektueller Verpackung" seien die weder zu lösen, noch zu erklären:

    "Das ist Folge schlechter Politik, nicht ein gesellschaftlicher Verfall, der über uns gekommen ist, und den wir mit einer Rückkehr zu Glaube, Heimat und Vaterland wieder beheben können."

    Dass sich Probleme in bestimmten Milieus verschärft hätten, habe diese Gesellschaft zum Beispiel einem gescheiterten Zuwanderungsgesetz zu verdanken, gegen das sich, so Rickens, etwa der mittlerweile emeritierte Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg Ende der 90er Jahre massiv gewehrt habe, Zitat:

    "Der quantitativ-demographische Niedergang wird vom Prozess des qualitativ-kulturellen Substanzverlustes überholt. [...] Dieser ist umso wahrscheinlicher, je mehr Menschen aus fremden Kulturen ins Land geholt werden."

    Christian Rickens fasst die schlichte Substanz dieses Satzes eines ehemaligen Universitätsordinarius so zusammen:

    "Fremde Mann nix gut für deutsch Kultur, nix kenne Schiller, nix kenne Grundgesetz."

    Was die "Freunde des gepflegten Werteverfalls" über die "neue Unterschicht" wissen, das beschreibt Christian Rickens mit vielen Zitaten im Kapitel: "Wer Arbeit will, findet auch welche"

    "Wenn sich neubürgerliche Autoren über die Unterschicht äußern, schwingt schnell ein Unterton der Verachtung mit; etwa, wenn Stern-Autor Walter Wüllenweber nach seinem Recherche-Abstecher ins Problemviertel Essen-Katernberg sofort begriffen hat: '*Disziplinlosigkeit ist eines der Merkmale der neuen Unterschicht'."

    Langzeitarbeitslose hätten ihren Opferstatus verloren, es gäbe einfach zu viele von ihnen, um sie noch zu bedauern, meint Rickens lakonisch. Auch in diesem Bereich gelingt es ihm, emotionalisierte Schuldzuweisungen – hier gegen so genannte Sozialschmarotzer - mit der klaren Analyse von verfehlter Arbeitsmarktpolitik zu entlarven. "Die neuen Spießer" ist ein sachlich fundiertes, kluges Buch mit einer weiteren ,überaus angenehmen Eigenschaft: Es hat sehr viel Sinn für Humor. Das Gegenteil davon sei, so Rickens, quasi ein gemeinsamer Code der neuen Spießer, denn:

    "Ein absolutes Erkennungsmerkmal ist ja ihre komplette Humorlosigkeit. Die sind furchtbar gespreizt in ihrer Sprache, schlichte Dinge werden wahnsinnig elitär ausgedrückt, und überall droht ständig der Untergang des Abendlandes."

    Christian Rickens: Die neuen Spießer. Von der fatalen Sehnsucht nach einer überholten Gesellschaft
    Ullstein Verlag,
    Berlin 2006
    288 Seiten, 14 Euro