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Suppe und Seelenheil

Die Heilsarmee ist 100 Jahre nach dem Tod ihres Gründers William Booth längst eine internationale Organisation geworden, die sich seit Beginn besonders für die untersten sozialen Schichten einsetzt. Sie war auch die erste kirchliche Organisation, die Frauen mit geistlichen Aufgaben betraute.

Von Christian Pietscher |
    "Da waren ungefähr 150.000 Londoner auf die Straßen gekommen, um dabei zu stehen. Und ganz London kam zum Stillstand bei der Trauerfeier bei seiner Beerdigung. Weil inzwischen hatte man begriffen, William Booth wollte nicht sich selber bereichern, er wollte auch keine neue Sekte gründen. Er wollte einfach Menschen helfen."

    Am Ende seines Lebens erhielt William Booth die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford und wurde zum Ehrenbürger Londons ernannt. Doch der Gründer der Heilsarmee hatte es anfangs schwer mit seiner eigenwilligen Art, das Evangelium unter die Menschen zu bringen. Viele in Kirche und Gesellschaft waren gegen diese neue christliche Bewegung, die er Mitte des 19. Jahrhunderts in Gang gebracht hatte - bekannt unter dem Namen "Salvation Army".

    Die "Heilsarmee" ist inzwischen in 125 Länder "einmarschiert", ruft auf zur Bekehrung zu Jesus Christus und leistet umfangreiche Sozialarbeit. Christine Schollmeier ist seit Jahrzehnten als ordinierte Geistliche mitten im Vergnügungsviertel auf der Reeperbahn in Hamburg unterwegs. Wie jeder Heilsarmeesoldat trägt sie eine Uniform.

    "Es hat nichts mit militaristischer Gesinnung zu tun. Sondern einfach damit er angesprochen werden kann. Es ist auch ein Schutz für ihn. Ich wohne mitten in St. Pauli und ich weiß bestens, dass ich geschützt bin durch meine Uniform. Ich bin nicht eine, die da durch geht, bin eben die von der Heilsarmee. Und wenn mir etwas passieren würde, würden andere Leute zu meiner Verteidigung kommen. Das habe ich auch selber erlebt."

    Mit 18 Jahren kam die gebürtige Britin nach Deutschland. Als mittellose Studentin stand sie kurz davor obdachlos zu werden. Also meldete sie sich bei der Heilsarmee und ihr wurde geholfen. Heute leitet sie das historische Archiv dieser außergewöhnlichen Religionsgemeinschaft. An William Booth schätzt sie besonders dessen pragmatischen Umgang mit dem christlichen Glauben.

    "Booth war Realist. Er hat zum Beispiel gesagt: Er hat sich nie jemand mit Zahnschmerzen die berühmte Luther-Frage gestellt: Wo finde ich einen gnädigen Gott?, wenn er einen Funken Verstand im Kopf hat, fragt er: Wo finde ich einen Zahnarzt? Erstmal müssen diese ganz dringenden materiellen Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden, bevor ein Mensch die Muße hat, sich über seine ewigen Sachen dann Gedanken zu machen. Er hat gesagt: "What is the use of preaching the gospel to men, whose whole intention is concentrated upon a mad desperate struggel to keep themselves alive."

    Was bringt es, das Evangelium Menschen zu predigen, die ausschließlich damit beschäftigt sind, einen äußerst verzweifelten Überlebenskampf zu führen?

    "Er hat gesagt, einem Menschen mit Hunger brauche ich keine Predigt zu halten. Sein Magen knurrt so laut, dass er die Predigt nicht hören kann."

    Geboren 1829 in Nottingham, wächst William Booth selbst in ärmlichen Verhältnissen auf. Als Jugendlicher macht er eine kaufmännische Lehre. Zu dieser Zeit besucht er auch zum ersten Mal Gebetsversammlungen der Methodistenkirche. Walter Fleischmann-Bisten, Leiter des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim:

    "Bei Booth spielt das Schuldbewusstsein oder das Sündenbewusstsein, von Anfang an eine große Rolle. Es wird zum Beispiel erzählt, also bevor er sich bekehrt hat, war er ja Angestellter oder Lehrling würde man sagen, in einem Pfandleihhaus in Nottingham gewesen. Und da war er mal der Meinung, dass er einen Freund bei einem Handel übervorteilt hätte. Und dann bricht er - praktisch unter der Last seines Gewissens - zusammen. Er bittet Gott um Vergebung und bringt dem Freund auch diesen Gegenstand zurück."

    Es ging um einen silbernen Bleistift, den er sich erschwindelt hatte. Später erinnert sich William Booth noch genau daran.

    In dem Augenblick fiel die Last der Schuld von meinem Herzen, kehrte der Friede bei mir ein, und ich zog aus, um Gott und meinen Mitmenschen zu dienen.

    Es dauerte dann noch einige Jahre, bis sein Entschluss Pfarrer zu werden feststand. Zunächst war William Booth im Dienst der Methodisten. Zu seinem Auftrag gehörten auch Evangelisationsreisen. Ihm lag weniger, darauf zu warten, dass die Menschen zu ihm in die Kirche kamen. Er ging lieber zu ihnen, holte sie dort ab, wo sie waren. Dabei machte er sich auch neue Methoden der Verkündigung zunutze. Von US-amerikanischen Erweckungspredigern guckte er sich ab, wie dieses Abholen funktionierte. Erich Geldbach, Professor für Ökumene und Konfessionskunde:

    "Revival Techniques, so nannte man das, also Erweckungstechniken. Zum Bespiel, dass man eine ganze Woche oder noch länger Abend für Abend Versammlungen abhält, dass das angekündigt wird, dass das propagiert wird. Dass man Leute von Haus zu Haus schickt und Leute einlädt zu diesen Versammlungen."

    Ganz anders als in einem nüchternen protestantischen Gottesdienst ist dabei die Gefühlsebene kaum zu unterschätzen.

    "Da spielt eine ganz große Rolle, dass eine neue Art von Musik eingeführt wird. Man nimmt einfach volkstümliche Melodien und unterlegt die mit christlichen Texten. Also Sachen, die man auf der Gasse sowieso hört. Die Gassenhauer werden jetzt sozusagen verchristlicht. Und das erzeugt natürlich eine bestimmte Atmosphäre. Und diese Atmosphäre soll dazu beitragen, dass Menschen sich angesprochen fühlen."

    Noch bevor William Booth seinen Beruf als Kaufmann aufgab, lernte er Catherine kennen, die er später heiratete. Sie war sehr belesen und hat ihm später beim Schreiben seiner Bücher geholfen. Von Anfang an hatte sie maßgeblichen Einfluss auf ihn. Christine Schollmeier, Archivarin bei der Heilsarmee:

    "Ohne Catherine wäre aus William nichts geworden – das wusste er glaube ich auch."

    Und ohne sie gäbe es in der Heilsarmee wohl auch keine Frauen mit geistlichem Amt. Heute würde man sagen, sie habe feministisch argumentiert, meint Erich Geldbach:

    "Also sie hat sich immer dagegen verwahrt, dass Frauen minderwertig sind, nicht die gleichen intellektuellen Fähigkeiten haben wie Männer. Und infolgedessen hat sie auch gesagt, jede Frau ist auch in der Lage zu predigen, auch öffentlich zu predigen. Was im 19. Jahrhundert ein ganz revolutionärer Gedanke war."

    Catherine Mumford findet die biblische Grundlage dafür in der Apostelgeschichte, im zweiten Kapitel. Da ist davon die Rede, dass der Heilige Geist auch über Mägde und Töchter ausgegossen wird. Walter Fleischmann-Bisten:

    "Und sie sagt, es war ein ganz großer Verlust, was ganz Schreckliches, und ein Nachteil, ein Schaden für die Kirche, der unermesslich war, dass sie das nicht von Anfang an berichtigt hat. Sie spricht an einer Stelle sogar einmal von einem Ränkespiel des Teufels, der verhindert hätte, dass die Frauen von Anfang an die gleichen Rechte wie die Männer in den Kirchen gehabt haben."

    Trotzdem war William Booth erst einmal skeptisch. Eine Frau, die predigt, war kaum vorstellbar. Erich Geldbach:

    "Aber dann hat sie insistiert und sogar gedroht, die Verlobung aufzulösen, wenn er da nicht auf ihre Linie einschwenkt. Was er dann auch getan hat. Aber auch aus eigener Überzeugung, nachdem sie ihn überzeugt hat mithilfe von bestimmten biblischen Versen, die sie zur Verteidigung ihrer Ansichten angeführt hatte."

    William Booth lässt sich überzeugen und heiratet Catherine. Was dann passiert, ist die entscheidende Phase für die Gründung der Heilsarmee. Sie trennen sich von der Methodistenkirche, um unabhängig reisen und planen zu können und ziehen von einer Evangelisation zur nächsten. Ob im Freien, im Konzertsaal oder im Zirkuszelt – als feuriger Prediger macht sich William Booth überall einen Namen.

    In London wird das Ehepaar massiv mit sozialen Missständen konfrontiert. Später schreibt William Booth in der sozialpolitischen Kampfschrift "In Darkest England And The Way Out" – "Im dunkelsten England und der Ausweg":

    Ich sah Massen von Menschen, nicht nur ohne Gott und ohne Hoffnung, sondern versunken in die verzweifeltsten Formen von Bosheit und Elend, die man sich nur vorstellen, kann.

    William Booth hatte vor allem diejenigen im Blick, denen es am dreckigsten ging, Menschen, die hungerten, Verwahrloste, Prostituierte und Alkoholiker.

    William Booth versteht seine Predigt als Seenotrettungsruf. Per "SOS" - "save our souls" - will er Menschen vorm Ertrinken retten. In den Slums in London in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts merkt er dann mehr und mehr, dass diese Rettung nur ganzheitlich gelingen kann. Jahrzehnte später schreibt er eine Art Resümee mit dem Titel "Die Rettung für beide Welten". Darin hält er fest: Christliche Verkündigung und Sozialarbeit gehören untrennbar zusammen.