"Er ist es, der das Buch auf dich herabgesandt hat. Einige seiner Verse sind eindeutig – sie sind die Mutter des Buches -, andere sind mehrdeutig. Doch diejenigen, die in ihrem Herzen verirren, folgen dem, was darin mehrdeutig ist, um Zweifel zu erwecken und um es (nach ihrer Weise) zu deuten. Doch nur Gott kennt dessen Deutung. Und diejenigen, die im Wissen fest gegründet sind, sagen: "wir glauben daran. Alles kommt von unsrem Herrn."
Dieser Vers gehört zu den schwierigsten Versen des Korans. Er dürfte spät in Medina verkündet worden sein. Vor allem sind zwei darin enthaltene Themen Gegenstand intensiver Diskussion. Das erste Thema betrifft die Einteilung der Koranverse in zwei Kategorien. Die arabischen Attribute dafür, hier übersetzt mit "eindeutig" und "mehrdeutig", sind an sich ambivalent. Das macht eine Bedeutungsbestimmung beider Kategorien kaum möglich.
Auch die Bedeutung des Ausdrucks "Mutter des Buches" wird kontrovers diskutiert. Die Mehrheit der muslimischen und nicht-muslimischen Gelehrten neigt dazu, diese Äußerung so zu interpretieren, dass die klaren, eindeutigen Verse den Kern des Korans bildeten; über ihre Bedeutung bestehe Konsens.
Die anderen Verse sind mehrdeutig und nicht leicht zu interpretieren. Welche Verse jeweils zu diesen beiden Kategorien gehören, lässt sich aus der Aussage nicht ableiten.
An den dargestellten Gedanken schließt sich ein weiterer Zusammenhang an, über dessen Verständnis gestritten wird. An der Stelle steht, dass diejenigen, die verirrt sind, also nicht einfach an die Aussagen des Korans glauben, gezielt die Deutung der mehrdeutigen Stellen suchen. Das tun sie, um durch deren Interpretation Zwietracht und Wirbel in der Gemeinde zu verursachen.
Sodann fährt der Vers fort, indem er das Recht auf die Interpretation der mehrdeutigen Verse einschränkt. Nur Gott kenne deren Deutung; den Menschen stehe die Interpretation nicht zu. Damit ist der Satz jedoch nicht abgeschlossen. Durch eine Konjunktion werden Gott und die Menschen, "die im Wissen fest gegründet sind", wie es heißt, miteinander verbunden.
Da die handschriftlichen arabischen Quellen des Korantexts ohne Punktierung sind, kann die Stelle auf zwei unterschiedliche Weisen gelesen werden. Nach der einen Lesart wird der Punkt nach dem arabischen Wort für "Gott" gesetzt. Daraus ergibt sich, dass "nur" Gott die Deutung der schwierigen mehrdeutigen Koranverse kennt.
Nach der zweiten Lesart steht der Punkt im arabischen Text nach dem Wort für "Wissen". Dadurch wird auch den Menschen, "die im Wissen fest gegründet sind", die Fähigkeit zugesprochen, die mehrdeutigen Koranverse zu deuten.
Die traditionellen Koranwissenschaften im Islam kennen beide Lesarten. Die erste Lesart ist unter konservativen Einflüssen weit verbreitet. Mit der zweiten Lesart hat zum Beispiel der im Jahr 1198 gestorbene große muslimische Philosoph Averroes argumentiert.
Er zielte darauf ab, aus dem Koran heraus eine auf menschlicher Vernunft basierende Interpretation der komplizierten Verse zu rechtfertigen. Wichtig war ihm das insbesondere für solche Verse, in denen Gott mit menschlichen Eigenschaften beschrieben wird. Denn das ist nach herrschender Lehre im Islam nicht möglich, da Gott ohne Zeit und Raum ist.
Laut Averroes müssen jedoch Menschen, die nicht über notwendiges Wissen verfügen, entsprechend der ersten Lesart von der Auslegung mehrdeutiger Verse ferngehalten werden. Eine Vorstellung, die im Islam in den vergangenen Jahrhunderten weite Verbreitung fand.
Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.