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Tastengott

Das Attribut "The Last Romantic" hörte Vladimir Horowitz gar nicht gern. Dabei war der amerikanisch-russische Meisterpianist schon zu Lebzeiten eine Legende. Zugleich war der Musiker aber auch ein zutiefst gespaltener Mensch, der von einer Lebenskrise in die nächste strauchelte.

Von Michael Stegmann | 05.11.2009
    Es gibt zahllose Pianistinnen und Pianisten – und es gab ihn: Vladimir Horowitz. Geboren wird Vladimir Horowitz am 1. Oktober 1903 in Kiew – manche Quellen sagen: 1904 – als Sohn eines Elektroingenieurs und einer Pianistin, die dem Fünfjährigen den ersten Unterricht gibt. 1920 beendet er sein Studium bei Felix Blumenfeld, debütiert mit dem mörderisch schweren dritten Klavierkonzert seines großen Vorbilds Sergej Rachmaninow und gilt bald als Hyper-Virtuose ohne Fehl und Tadel.

    Auch wenn er 1926 die Sowjetunion für immer verlässt – der Schule und dem Anschlag nach ist Horowitz ein durch und durch russischer Pianist.

    "Ich habe dort 20 Jahre meines Lebens verbracht. Danach ging ich nach Deutschland, Frankreich, Italien, England und schließlich nach Amerika; dann brach der Krieg aus, und ich bin in Amerika geblieben."

    Triumphale Konzerte in Berlin und Hamburg bilden den Auftakt seiner Weltkarriere, und noch während seiner letzten Konzerte in Deutschland (1986 und '87) denkt er gern an diese Anfänge zurück.

    "50 Jahre, ich habe nicht Deutsch gesprochen. I can lesen, ich verstehe alles – aber ich habe keine Gelegenheit, zu sprechen."

    Fünf Jahre nach seinem USA-Debüt (1928) spielt Horowitz erstmals unter Arturo Toscanini, dessen Tochter Wanda er im Dezember 1933 heiratet: Eine lebenslang problematische Beziehung. 1936 zieht sich Horowitz für zwei Jahre vom Podium zurück.

    Zwei weitere Konzertpausen (von 1953 bis '65 und von 1968 bis '74) sind der Spiegel tiefer Lebens- und Identitätskrisen: Horowitz leidet unter seiner latenten Homosexualität, sucht in Psycho- und Elektroschocktherapien Zuflucht, kämpft mit Medikamenten gegen seine Selbstzweifel und Depressionen an, zieht sich immer mehr in sich selbst zurück; seine einzige Tochter, Sonia, nimmt sich 1975 das Leben.

    Von all dem lassen seine Aufnahmen nichts ahnen. Über 100 CDs dokumentieren die mehr als sechs Jahrzehnte seiner Ausnahme-Pianistik; am Anfang stehen Klavierwalzen, die Horowitz 1926 in Deutschland für die Firma Welte-Mignon eingespielt hat.

    Am Ende stehen "The Last Concert" (1987 in Hamburg) und "The Last Recording" – die letzte Session in seinem New Yorker Appartement, die Horowitz am 1. November 1989, vier Tage vor seinem Tod, mit Franz Liszts "Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen" abschließt.

    Neben der stupenden Virtuosität ist es vor allem die Klangschönheit und -farbigkeit, die Horowitz' Klavierspiel bestimmt. Chopin und Liszt, Schubert und Schumann, Rachmaninow und Skrjabin, Scarlatti und Clementi – es gibt kaum einen, der den Flügel so sehr zum Singen bringt. Und bei aller (oft durchaus selbst-darstellerischen) Eitelkeit geht es ihm doch immer um die Musik.

    "Sie haben zwei Möglichkeiten, Klavier zu spielen: Entweder, Sie verkaufen sich selbst – oder aber, Sie spielen die Musik; Sie verkaufen die Musik, aber nicht sich selbst."

    Wer Vladimir Horowitz je erlebt hat, wird dieses zutiefst romantische Klavierspiel nie vergessen; auch wenn er von dem Attribut The Last Romantic gar nichts hielt; er wisse gar nicht, was das sei: ein Romantiker.

    So ist am 5. November 1989 vielleicht nicht "der letzte Romantiker" gestorben, aber doch einer der größten Pianisten aller Zeiten.