Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Tiefer als Schlaf?

Medizin. - Ärzte versetzen weltweit jährlich etwa 230 Millionen Menschen in Vollnarkose. Das kann für eine kurze zahnärztliche Operationen nötig sein, für das das Glätten eines Meniskus oder für einen stundenlangen Eingriff am Herzen. Bisher ist vor allem erforscht worden, wie die dabei verwendeten Narkosesubstanzen an den Zellen des Gehirns andocken. Nun beginnen Wissenschaftler aber auch zu verstehen, was sie insgesamt im Gehirn bewirken. Das hat zu einer neuen Debatte darum begonnen, wie der Narkosezustand zu deuten ist.

Von Martin Hubert | 09.11.2012
    Operationstag in einer Kölner Zahnarztpraxis. Eine junge Patientin liegt langgestreckt im Behandlungsstuhl. Sie wirkt angespannt und nervös. Zahnarzt Wulf Peterke beugt sich beruhigend über sie.

    "Sie sind Jahrgang 1995?"

    "Ja."

    "Und wir haben vor, alle vier Weisheitszähne zu entfernen, oben, unten, rechts und links."

    "Ja ."

    "Und wir machen das Ganze wie gesagt unter Vollnarkose, das bedeutet, nachher wird ein Narkosearzt zu Ihnen kommen und wird Ihnen ein Medikament in die Vene spritzen, dann werden sie ganz ganz tief schläfrig werden."

    "Mhm."

    "Und wenn Sie dann eingeschlafen sind, dann werden wir sie beatmen und an eine Maschine anschließen."

    Wenn Ärzte Patienten in die Vollnarkose schicken, machen sie das meist mit dem beruhigenden Satz: "Wir schicken Sie jetzt in einen tiefen Schlaf." Forscher wie Professor Emery Brown vom Schlafdepartment der amerikanischen Harvard-Universität halten das jedoch für nicht mehr angemessen. Denn die Narkose reiche viel tiefer als der Schlaf.

    "Es ist natürlich schön, wenn sie so bewegungslos da liegen, während Sie der Chirurg operiert. Wir stabilisieren dann ja auch in der Narkose künstlich ihre physiologischen Systeme: Wir halten die Herzrate aufrecht, den Blutdruck, den Stresslevel und die Körpertemperatur. Wenn sie sich das alles aber wegdenken, haben sie ein Synonym für den Tod. So etwas kann man einfach nur als reversibles Koma bezeichnen."

    Eine Vollnarkose versetze den Patienten in einen komaähnlichen Zustand, aus dem ihn die Ärzte dann wieder zurückholen. Emery Brown konnte für diese Behauptung inzwischen einige Belege sammeln. Er registrierte zum Beispiel, wie sich unter Narkose die elektrischen Signale verändern, mit deren Hilfe Gehirnzellen Informationen austauschen.

    "Einerseits oszillieren Nervenzellen im sogenannten Alpharhythmus von etwa zehn Schwingungen pro Sekunde. Dieser Rhythmus ergreift wichtige Regionen der Großhinrunde und des mittleren Gehirns und sorgt dafür, dass dort nur schwer Informationen weitergegeben werden können. Wir fanden aber auch langsamere Oszillationen, die es ebenfalls erschweren, dass Hirnregionen Informationen austauschen. Diese beiden Prozesse verhindern den Informationsaustausch im Gehirn."

    Und zwar so stark, dass das Gehirn in der tiefsten Narkose komaähnliche Zustände aufweist. Das Zusammenspiel der Hirnregionen wird insgesamt gestört und auf ein Minimum reduziert. Eine neue Studie Bostoner Forscher hat das gerade für die langsamen Hirnoszillationen bestätigt. Emery Brown will keine Panik hervorrufen. Er betont, dass die allermeisten Narkosebehandlungen reine Routine sind und ohne größere Komplikationen ablaufen. Auch in der Kölner Zahnarztpraxis kann der Anästhesist Gerhard Fock die Behandlung problemlos beenden:

    "Ich sehe anhand des Blutdrucks, der wird ja automatisch alle fünf Minuten gemessen, mit dem Anstieg des Blutdrucks wird der Patient immer wacher. Schön gut durchatmen, schön gut durchatmen, ganz tief ein und ausatmen… Sehr gut, es ist alles fertig, OK. Gut geschlafen?"

    Trotzdem gibt es offene Fragen: warum wachen manche Patienten nach der Narkose doch erst sehr spät auf? Warum berichten vor allem ältere Menschen nach Narkoseeingriffen über Wahrnehmungsstörungen und Verwirrtheit? Soll man Kleinstkindern eine Narkose verabreichen? Für Emery Brown lassen sich diese Fragen in Zukunft besser angehen, wenn man die Vollnarkose als einen komaähnlichen Zustand versteht und erforscht.

    Hinweis: Am kommenden Sonntag, 11.11., 16:30 Uhr, sendet der Deutschlandfunk in der Sendung "Wissenschaft im Brennpunkt" ein Feature zum Thema.