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Totengräber der Olympischen Charta

Die Olympischen Sommerspiele in London könnten in die Annalen eingehen: Voraussichtlich werden erstmals alle teilnehmenden Nationen sowohl männliche als auch weibliche Sportler in ihren Delegationen haben. Doch für das "Komitee Atlanta+" ist der Kampf um Gleichberechtigung noch lange nicht gewonnen.

Von Suzanne Krause |
    In dem kleinen Vereins-Büro mitten im Pariser Intellektuellenviertel Saint-Germain-des-Prés ist heute eine Lagebesprechung anberaumt. Bei seiner Protestaktion in London fordert das Komitee Atlanta+: Gerechtigkeit für die Frauen. Gleichberechtigung aller Sportlerinnen. Am kommenden Mittwoch lädt Komitee-Mitgründerin Annie Sugier die Medien vormittags auf ein Boot an der Themse ein, mit Dixieland-Kapelle und Aufklärungsfilmen. Und danach wird die Charta der Olympischen Bewegung symbolträchtig in der Themse versenkt.

    "Mit dieser Beerdigungszeremonie wollen wir eines klarmachen: eigentlich sollen die olympische Bewegung und insbesondere die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees die universellen Werte der Olympischen Charta verteidigen. Doch sie treten als deren Totengräber auf."

    In London werden erstmals alle Sportarten auch für weibliche Athleten angeboten. Ein Teilerfolg für die drei Gründerinnen des feministischen Komitees. Und auch die Europäische Union, die seit geraumer Zeit Geschlechter-Gleichberechtigung im Sport fordert, ist erfreut. Genau wie die Europäische Frauenlobby mit ihren 2.500 Vereinen und Verbänden. Die dem Komitee Atlanta+ aktiv den Rücken stärken. Doch die jüngsten olympischen Ereignisse bringen Annie Sugier auf die Palme: Anfang Juli hat der Internationale Fußballverband beschlossen, verschleierte Fußballerinnen zuzulassen. Auch für Matchs bei den Olympischen Spielen.

    "Natürlich könnte man sagen, dass wir in den vergangenen 20 Jahren viel gewonnen haben. Der Anteil der Sportlerinnen steigt stetig, in London gibt es eventuell keine einzige frauenlose Sportlerdelegation mehr. Aber wenn nun als Gegenleistung dafür eingeführt wird, dass Sportlerinnen aus gewissen Ländern nur im Schleier antreten dürfen und somit vor Aller Augen ihre Unterdrückung unterstrichen wird, dann scheitert unser Kampf."

    Die olympische Arena ist ein Ort der Neutralität, politische oder auch religiöse Botschaften sind untersagt, ebenso wie Diskriminierungen aller Art, postuliert die Charta der olympischen Bewegung. Als vor langen Jahren zwei afro-amerikanische Sportler auf dem Siegerpodest die Faust zum Black-Panther-Gruß ballten, wurden sie von den Spielen ausgeschlossen. Als die französische Delegation 2008, bei den Spielen in Peking, mit Buttons gegen die Menschenrechtsverletzungen in China protestieren wollte, wurde ihnen dies verboten. Als jedoch 1996 erstmals eine verschleierte Sportlerin bei den Olympischen Spielen antrat, blieb der Sturm der Entrüstung aus. Die Sportlerin stammte aus dem Iran. Genau wie Ana Pak. Doch sie lebt seit langem im Exil in Paris.

    "Dem islamischen Regime im Iran sind der Sport und die Frauen völlig egal und unwichtig. Etwas anderes hingegen hat oberste Priorität. Als Khomeini 1979 an die Macht kam, sagte er: von iranischem Boden aus soll die islamische Revolution um die Welt gehen. So durften die Frauen im Iran bis 1993 überhaupt keinen Sport treiben. Und seither nur verschleiert. Vor der islamischen Revolution hingegen nahmen die Iranerinnen an den Olympischen Spielen teil, in derselben Kluft wie alle anderen Sportler."

    Das Argument, dank der Aufhebung des Schleierverbots könnten nun Frauen aus strengmuslimischen Ländern an weltweiten Wettkämpfen teilnehmen, erbost Linda Weil-Curiel vom Komitee Atlanta+:

    "Glauben Sie wirklich, dass eine Hochleistungssportlerin Lust hat, bei 30 Grad im Schatten völlig eingemummt zum Wettkampf anzutreten? Mancher argumentiert, dass diese aufgezwungene Kleiderordnung es islamischen Sportlerinnen immerhin erlaube, zu den Spielen zu kommen und dort andere junge Menschen aus der ganzen Welt zu treffen. Und dass dieser Austausch ihnen sicherlich helfe, sich zu emanzipieren und vielleicht den Schleier abzulegen. Das aber bedeutet: man wird ihnen den Schleier aufzwingen, damit sie lernen, ihn abzulegen. Sehen Sie, wie absurd dieser Ansatz ist?"

    London ist für die Mitglieder des Komitees Atlanta+ nur eine Etappe bei ihrem Marathonlauf. Das Ziel: gleiche Startchancen, gleiche Bedingungen für alle Sportlerinnen.