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Tschechien
Zwischen Säkularisierung und Sehnsucht nach Heimat

Viele Kirchen im früheren Sudetenland verfallen seit Jahrzehnten. Viele Vertriebene wollen das ändern – und immer öfter auch Tschechen, die an der Grenze zu Deutschland heimisch geworden sind. Eine Konferenz in Prag stellt die Frage, ob es eine Chance für die verlassenen Kirchen gibt.

Von Kilian Kirchgeßner | 14.11.2017
    Die Wallfahrtsbasilika St. Maria von den sieben Schmerzen (Mater-Dolorosa-Kirche) in Krupka (Graupen) in Tschechien gehört zu den bedeutendsten Barock-Wallfahrtsorten Mitteleuropas.
    Wallfahrtskirchen gibt es zuhauf im Sudetenland - doch Wallfahrer bleiben aus (picture-alliance / dpa / Rainer Oettel)
    Eine sehr grundsätzliche Frage brachte ein Mönch aus Prag in die Debatte ein. Filip Bohac ist Prior des Dominikaner-Klosters mitten in der historischen Altstadt, ein junger Mann, der sich gut an die Debatten erinnert: Sollte man das Kloster erhalten, wo doch ringsum nur Touristen unterwegs sind?
    "Es war wichtig, sich zu fragen: Wollen wir am Ort bleiben, nur weil wir die Räume nun einmal haben. Es ist ein schönes Gedankenexperiment: Wenn wir den Leuten nah sein wollen, dann lasst uns doch dorthin ziehen, wo sie wirklich sind. Ist unser bestehendes Kirchengebäude in diesem Sinne ein Erbe, das uns weiterbringt - oder ein Klotz am Bein?"
    Lasst uns das alte Kloster in den Prager Gassen verkaufen und stattdessen etwas Neues bauen: irgendwo in der Plattenbau-Siedlung, dort, wo heute eben die meisten Menschen leben - das war die Überlegung, von der Prior Filip Bohac berichtet. Am Schluss entschieden sich die Dominikaner aber doch, den Standort beizubehalten; das alte Kloster wird jetzt nach und nach renoviert. Die meisten der Sakralbauten, um die es bei der Prager Tagung ging, stehen aber nicht in einer Stadt, sondern irgendwo im Grenzland zwischen Tschechien und Deutschland.
    Die Wallfahrtskirche von Hejnice/Haindorf, einst der zweitgrößte Wallfahrtsort in Österreich-Ungarn.
    Die Wallfahrtskirche von Hejnice/Haindorf, einst der zweitgrößte Wallfahrtsort in Österreich-Ungarn. (Deutschlandradio / Kilian Kirchgeßner)
    Positive Beispiele
    Kleine Kirchen und Kapellen, um die sich seit der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg niemand mehr kümmert. Die Frage ist die gleiche wie beim Prager Kloster: Soll man sie retten? Auf der Konferenz lautet die Antwort auf diese Frage fast immer "Ja" - was aber vor allem an der Auswahl der Referenten liegt, wie Mitorganisator Jakub Ded einräumt, Vorsitzender des tschechischen Denkmalpflege-Vereins Omnium:
    "Es ist immer leichter, jemanden als Referenten zu gewinnen, der ein positives Beispiel präsentieren kann. Man kriegt einfach keinen Bürgermeister oder Priester hierher, dem die Kirche unter den Fingern zerfällt. Deshalb sind die meisten Beispiele, die hier gezeigt werden, positiv - aber die Situation ist anders: Ich schätze es ist halb-halb - neben den vielen gelungenen Projekten guten Beispielen gibt es viele Projekte, die noch auf eine Lösung warten."
    Hohe Dunkelziffer
    Schlimmer noch: Niemand, nicht einmal das tschechische Denkmalschutzamt, weiß genau, wie viele Sakral-Denkmäler es im einstigen Sudetenland eigentlich gibt: Von mehr als 1.000 Friedhöfen, Bildstöcken, Kapellen und Kirche ist die Rede, die bereits renoviert sind - nochmal mehr dürften es sein, die auf eine Rettung warten. Bei vielen Renovierungen war Zuzana Finger dabei; sie ist bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft zuständig für den Denkmalschutz.
    "Böhmen ist ja sehr reich an Kirchen, an kleinen sakralen Denkmälern, und für die Sudetendeutschen ist es oft ein Herzensanliegen: die Rettung und Wiederbelebung dieser Denkmäler. Für die Sudetendeutschen ist es oft in den untergangenen Orten das einzige Erinnerungszeichen an das frühere Gemeindeleben."
    Tschechisch-deutsche Heimat-Symbole
    Deshalb hat die Diskussion um tschechische Sakraldenkmäler eine zusätzliche Dimension: Es geht vielen Vertriebenen um ein Symbol für die verlorene Heimat - die heutige Nutzung hin oder her. Alois Ehrl weiß um die Bedeutung dieses Aspekts: Er ist Pfarrer in Deutschland - und wurde selbst 1945 als Sohn von sudetendeutschen Eltern geboren. Im Vorstand eines Vereins macht er sich seit Jahren stark für die Renovierung von Sakraldenkmälern - und dieser Verein heiße ganz bewusst "Glaube und Heimat", weil es tatsächlich um beides gehe. Alois Ehrl:
    "Man darf nicht unterschätzen: In einer ganz säkularen Umgebung, wo es wenige Christen gibt, ist die Kirche so etwas wie die Seele eines Ortes. Auf jedem Prospekt wird die Kirche bildlich dargestellt."
    Alois Ehrl erzählt vom Böhmerwald-Ort Hamry, aus dem er stammt. Mit der Kirchenrenovierung habe man dort eine regelrechte Lawine losgetreten.
    "Es wäre früher undenkbar gewesen, dass die tschechischen Bewohner für die Deutschen grillen, Kaffee kochen, dass wir gemeinsam Feste feiern. Wir haben im Mikrokosmos des kleinen Böhmerwald-Ortes etwas ausgelöst. Wir haben einen Anhaltspunkt an früher, aber wir haben auch der Gemeinde Leben wiedergegeben. Da, denke ich, ist die Kirche ein gutes Medium, um etwas Positives auszulösen in der Verständigung von zwei Nachbarvölkern."
    Was füllt leere Kirchen?
    Das Beispiel ist typisch für einen Wandel, von dem auf der Prager Konferenz immer wieder zu hören war: Während noch in den 1990er Jahren die Sudetendeutschen den Takt angegeben haben, sind es heute vor allem Initiativen von jungen Tschechen, die sich für ihre Region engagieren. Auch sie wollen die Kirchen erhalten - nicht wegen ihrer religiösen Bedeutung, sondern ganz säkular als Beitrag zur Heimatpflege. Das Engagement der Tschechen sei eine neue Entwicklung aus den vergangenen paar Jahren, urteilt Jakub Ded, der Denkmalschutz-Aktivist:
    Man sagt immer so schön: Die Menschen nehmen einen Ort als 'ihren' Ort wahr, sobald sie dort jemanden auf dem Friedhof begraben haben. Genau darin lag lange Jahre das Problem: Wir brauchen die zweite, dritte Generation, bis sich jemand der Denkmäler annimmt.
    Und das sei eben im Grenzland jetzt der Fall - genau in dem Moment, wo jene Generation der Sudetendeutschen allmählich ausstirbt, die die Vertreibung noch selbst erlebt hat. Das Grundproblem bleibe aber, wer die Kirchen und Klöster nutzen soll. Jakub Ded:
    "Wir wissen, wie man Kirchen renoviert, wir wissen, wie man Geld dafür bekommt. Aber wir wissen nicht, wie man sie danach verwendet. Oft ist die Nutzung von geretteten Kirchen sehr ähnlich: Einmal im Jahr gibt es einen großen Gottesdienst, ansonsten Konzerte, vielleicht auch mal eine Ausstellung - alle versuchen das Gleiche."
    Auf der Prager Konferenz stellte sich ein Theater-Ensemble vor, das in einem früheren Kloster probt. Und immer wieder war von deutsch-tschechischem Austausch die Rede. Trotz solcher Denkanstöße: Ausgerechnet die Nutzung bleibt das entscheidende Problem bei der Renovierung von böhmischen Kirchen.