Dienstag, 23. April 2024

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Die Hussiten in Tschechien
Reformer 100 Jahre vor Luther

Er ist als Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet: Jan Hus. Eigentlich wollte er nur seine Kirche erneuern. So wie Luther, der sich später immer wieder auf den böhmischen Kirchenreformer berief. Heute sind jene evangelischen Christen, die sich auf Jan Hus berufen, eine kleine Minderheit. Was auch daran liegt, dass Tschechien als das atheistischste Land Europas gilt.

Von Kilian Kirchgessner | 09.03.2017
    Das Jan-Hus-Denkmal auf dem Altstädter Ring in Prag. Der Aufstieg von Jan Hus begann an der Prager Karls-Universität wo er 1401 zum Dekan ernannt wurde. 1402 wurde er Prediger in der Prager Bethlehemskapelle.
    Das Jan-Hus-Denkmal auf dem Altstädter Ring in Prag. (picture alliance / epd-bild / Kilian Kirchgessner)
    Singen, Klavier, Anweisungen der Dirigentin. Noch sitzt sie nicht ganz, die schwierige Stelle in der zweiten Zeile. Wieder und wieder probt der Chor, die Dirigentin vorn am Klavier gibt geduldig ihre Anweisungen.
    Donnerstagabend im Prager Viertel Kobylisy. Die Jakobsgemeinde residiert in einem Bau aus den 1970er-Jahren. Ringsum stehen Reihenhäuschen, ein wenig entfernt zeichnen sich Plattenbauten ab. Hier im Gemeindehaus wird es allmählich lebendig. Ein paar Schritte entfernt vom Trubel sitzt Pfarrer Ondrej Kolar in seinem Büro.
    "Wir sind gleich in doppelter Hinsicht eine Minderheit: Es gibt nur wenige Christen in Tschechien, und von denen wiederum sind die meisten Katholiken. Unsere Kirche ist die zweitgrößte hier im Land - und das mit gerade einmal 50.000 Mitgliedern. Andererseits sind die evangelischen Gemeinden hier in Tschechien eine sehr lebendige Gemeinschaft: Wer bei uns Mitglied ist, auf den können wir auch wirklich zählen."
    Jan Hus als tschechischer Nationalheld
    Pfarrer Ondrej Kolar ist ein junger Mann, unter dem Sakko trägt er ein buntes T-Shirt. Er gehört zur Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder - einer Unierten Kirche, die erst 1918 entstanden ist, als sich die reformierten und die lutherischen Gemeinden in Tschechien zusammenschlossen. Die Wurzeln indes reichen viel weiter zurück - bis zu Jan Hus, dem böhmischen Kirchenreformer und Theologie-Professor, der 100 Jahre vor Luther wirkte. In Tschechien zählt er zu jenen Nationalhelden, die jedes Kind schon ganz früh kennenlernt. Pfarrer Ondrej Kolar lacht, wenn er an seine erste Begegnung mit dem Reformator denkt:
    "Als ich ein kleines Kind war, habe ich mich für Jan Hus vor allem aus militärischer Sicht interessiert: Aus einem Buch habe ich alle Waffen aus den Hussitenkriegen detailliert nachgezeichnet."
    Pfarrer Ondrej Kolar aus der Jakobsgemeinde
    Pfarrer Ondrej Kolar aus der Jakobsgemeinde (Kilian Kirchgeßner/Deutschlandfunk)
    Tatsächlich überlagern sich in Tschechien die Religions- und die Militärgeschichte: Nach dem Tod des böhmischen Reformators spitzten sich die Konflikte zwischen seinen Anhängern aus den Reihen des böhmischen Adels und den Katholiken zu, die oft deutschsprachig waren. Die Hussitenkriege waren die Folge. Und so kommt es, dass in Tschechien auch heute noch die Rede schnell auf die Politik kommt, wenn eigentlich von Religion gesprochen wird.
    Ein Besuch beim Historiker Pavel Soukup. Erst unlängst ist seine Jan-Hus-Biografie auch auf Deutsch erschienen. Soukup arbeitet am Zentrum für Mittelalter-Studien in der Prager Altstadt, nur ein paar Schritte entfernt von der Bethlehemskapelle, in der Jan Hus seinerzeit predigte.
    "Jan Hus verstand sich selbst in erster Linie als Priester und Prediger. Die politische Bedeutung ist etwas, was noch dazukam - durchaus im Gegensatz zu anderen Reformatoren. Jan Hus war überzeugt, dass es seine Mission sei, das Wort Gottes zu verbreiten und es auszulegen. Damit er seine Auffassungen durchsetzen konnte, brauchte er Einfluss auch außerhalb seiner Kanzel."
    Eine Straße im Berliner Stadtteil Wedding erinnert an die Hussiten.
    Eine Straße im Berliner Stadtteil Wedding erinnert an die Hussiten. (Deutschlandradio / Andreas Main)
    Die Inhalte der hussitischen Lehre brachten seine Anhänger später in den Vier Prager Artikeln auf den Punkt: Die Kommunion in beiderlei Gestalt zählt dazu, also auch der Kelch für die Laien, ebenso wie die Entäußerung der Kirche von weltlicher Macht. Diese Ideen machten im mittelalterlichen Böhmen schnell die Runde. Historiker Pavel Soukup:
    "In Prag kannte Jan Hus wirklich jeder. Die Stadt war damals kleiner als heute, obwohl sie eine der größten Städte Europas war; sie hatte etwa 30.000 Einwohner. Die Bethlehemskapelle, wo er seine Wirkungsstätte hatte, fasste 3.000 Besucher. Viele kannten ihn also persönlich."
    Viele der Gedanken, die ein ganzes Jahrhundert später durch Martin Luther in weiten Teilen Europas salonfähig wurden, nahmen ihren Ausgang bei Jan Hus und seinen Weggefährten. Die versammelten bald weite Teile Böhmens hinter sich, hatten aber noch nicht jene Kommunikationsmittel zur Verfügung wie Luther oder andere Reformatoren der Frühneuzeit.
    Wachsfigur des tschechischen Reformators Jan Hus.
    Wachsfigur des tschechischen Reformators Jan Hus. (picture alliance/ dpa / Roman Vondrous)
    "Luther war aktiv, als der Buchdruck schon erfunden war, das ist ein entscheidender Unterschied. Die hussitische Lehre verbreitete sich trotzdem rasch, war allerdings beschränkt auf die tschechischsprachigen Gebiete, seine Schriften kamen nicht über die Grenzen; anders als bei Luther, der ja bis hin nach Skandinavien gelesen wurde."
    Die wenigsten Tschechen bekennen sich zu einer Kirche
    Heute gibt es in Tschechien gleich zwei Kirchen, die sich auf Hus berufen: Neben den Böhmischen Brüdern ist es noch die Hussitische Kirche der Tschechoslowakei, die eine Art Mittelweg zwischen Reformation und Katholizismus einschlägt. Ihre gesellschaftliche Bedeutung hält sich in Grenzen, die Mitgliederzahlen sind im Sinkflug.
    Tschechien ist heute die europäische Gesellschaft, in der sich die wenigsten Menschen zu einer Kirche bekennen - und das trotz der Tradition eines streitbaren Christentums. Warum das so ist? Pfarrer Ondrej Kolar sitzt im Büro seines Gemeindezentrums und zuckt mit den Schultern.
    "Da kommen viele Faktoren zusammen: Die Rekatholisierung durch die Habsburger im 17. Jahrhundert war der Anfang mit seiner Vermischung von Religion und Machtpolitik. Und was da nicht verdorben wurde, hat dann hat der Kommunismus geschafft. Die Menschen hier bei uns haben nicht aufgehört zu glauben. Aber sie haben aufgehört, die Kirche für ihr Leben zu brauchen."
    Pfarrer Ondrej Kolar arbeitet in seiner kleinen Gemeinde am Rand von Prag daran, die Reformation nach vielen Jahrhunderten wieder interessant zu machen in Tschechien. Der Chor, das Treffen für Eltern und Kinder, das alles gehört dazu. Die Arbeit in der Kirche von heute sei ein Weg der kleinen Schritte, sagt Ondrej Kolar.