Lennart Pyritz: Kostenpunkt: anderthalb Milliarden Euro. Gewicht: 36 000 Tonnen. Dimensionen: Notre Dame de Paris fände darunter Platz. Das sind ein paar Eckdaten zu der neuen Hülle um den alten Sarkophag von Tschernobyl, zum sogenannten New Safe Confinement, dem neuen sicheren Einschluss.
Ihr Aussehen: wie eine halbierte, silberne Riesentonne. Sie ist seit dem 14. November über den alten Sarkophag geschoben worden: 224 hydraulische Hubpressen hatten den Koloss jedes Mal um einen Zentimeter angehoben und dann in Richtung Sarkophag geschoben: 60 Zentimeter um 60 Zentimeter kroch das "New Safe Confinement" (NSC) auf sein Ziel zu, das es nun verdeckt.
Um das zu feiern hat heute in Tschernobyl eine große Zeremonie stattgefunden. Wie ist dieser neue Einschluss aufgebaut?
Dagmar Röhrlich: Die Stahlbauer des 19. Jahrhunderts hätten ihre Freude an der Konstruktion, unter der jetzt der Sarkophag und das Maschinenhaus von Block 4 verschwunden sind: Unter den vielschichtigen Verkleidungen aus Edelstahlbleichen, Isolierschichten und Kunststoffmembranen steckt ein Gerippe aus Stahlröhren, das längs mit zwei Betonträgern verbunden ist. Von außen sieht man den größeren der beiden Gewölbe, darunter ist noch ein zweites.
Aus Strahlenschutzgründen ist nicht nur die Montage des Stahlbaus an sich 330 Meter vom Block 4 entfernt aufgebaut worden, sondern auch die gesamte Ausrüstung. Und vor allem ist da die Belüftungsanlage, an der alles hängen wird.
Belüftungssystem soll den Rost besiegen
Pyritz: Warum das?
Röhrlich: Die Hightechhülle ist auf eine Lebensdauer von 100 Jahren ausgelegt worden. 100 Jahre, in der die Technik funktionieren muss. Wie eine Raumstation verlangt das New Safe Confinement über seine Lebenszeit hinweg permanente Wartung. Ein defekter Kranmotor lässt sich austauschen, neue Computersysteme installieren - doch der Stahlbogen selbst lässt sich nicht ersetzen.
Normalerweise werden Stahlkonstruktionen, die lange halten sollen, alle paar Jahre gestrichen. Das geht nicht. Also hat man eine andere Lösung gefunden: Ein Belüftungssystem, das die Luftfeuchtigkeit im Inneren dieses Doppeldachs immer unter 40 Prozent hält, soll den Rost besiegen.
Pyritz: Was ist drin?
Röhrlich: Da sind zum einen die Sicherheitssysteme von der Strahlenmessung bis zum Feuerschutz oder Zugangskontrollen zu den Systemen, die die Struktur überwachen.
Zum anderen sind da natürlich auch die "Arbeitspferde": Allen voran die beiden Schwerstlastkräne, die unter dem Dach des NSC an Längsschienen hängen. Sie können ihre Fracht zwischen dem Boden bis in 77 Meter Höhe bewegen. Sie tragen auch die beiden Werkzeug- und Transportplattformen, die sie auf fünf Zentimeter genau manövrieren können.
Diese Plattformen sind nicht nur dazu da, Abgebautes sicher wegzuschaffen. Vielmehr tragen sie auch Roboterarme, Betonbohrer et cetera oder die beiden Zehn-Tonnen-Staubsauger.
Das Projekt soll im November 2017 abgeschlossen sein
Pyritz: Von wo aus sollen die Arbeiten gesteuert werden?
Röhrlich: Gesteuert wird alles von außen, dem Kontrollgebäude, das neben dem NSC errichtet worden ist. Dort stehen auch die Hilfsgebäude mit den Wassertanks fürs Löschen, die Becken, in denen das Regenwasser gesammelt wird samt den Behandlungsanlagen.
So viel wie möglich soll ferngesteuert laufen. Allerdings werden Arbeiter trotzdem ins Innere der Hülle müssen.
Pyritz: Welche Arbeiten müssen jetzt noch erledigt werden?
Röhrlich: Es ist noch viel "Kleinkram" zu erledigen. Und zwar werden speziell entwickelte Kunststoffmembranen installiert, die für eine elastische, und doch absolut dichte Verbindung zwischen beiden Strukturen sorgen.
Dann werden alle Kräne und Computer und was es sonst noch so alles an Geräten und Installationen gibt, angeschlossen und überprüft. Außerdem laufen die Genehmigungsverfahren. Abgeschlossen sein soll das Projekt dann im November 2017.
"100 Jahre sind nicht viel in Anbetracht der Aufgabe"
Pyritz: Was soll passieren, wenn das NSC betriebsbereit ist?
Röhrlich: Dann soll es erst einmal eine internationale Ausschreibung zu den wichtigsten Arbeiten geben - es geht unter anderem darum, die instabilsten Teile zu demontieren. Das sind vor allem Teile der Dachkonstruktion, die vor 30 Jahren einfach nur aufgelegt worden sind.
Die Pläne dafür, wie der eigentliche Rückbau dann ablaufen soll, müssen erst noch erarbeitet werden. Offen ist auch, woher das Geld dafür kommen soll.
Denn im Sarkophag lagern rund 180 Tonnen Uran und Plutonium aus den geschmolzenen Brennstäben - und alles, was sonst noch nach 30 Jahren an strahlendes Radionukliden und Staub in einem explodierten Reaktor zu finden ist.
Was genau wo liegt, und in welchem Zustand es ist, weiß ohnehin niemand genau. Für viele Arbeiten existieren keine Technologien.
Pyritz: Wo soll der abgebaute strahlende Schrott dann zwischengelagert werden?
Röhrlich: Es gibt noch kein Zwischenlager, wo die Sachen hinkönnten. Vorerst werden die instabilen Teile, die als erste abgenommen werden, verpackt und im NSC gelagert.
Pyritz: Die Hülle soll 100 Jahre halten. Wird das ausreichen, um das Schlimmste zu beseitigen?
Röhrlich: Das ist nicht viel in Anbetracht der Aufgabe. Auch wenn man den alten Sarkophag jetzt nicht mehr sieht, überwunden sind die Folgen der bislang schwersten Havarie eines Kernkraftwerks noch lange nicht. Die eigentliche Herausforderung kommt erst noch.