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Über das Leben und die Wahlen in der DDR
"Ich habe heimlich Deutschlandfunk gehört"

Der Deutschlandfunk ist ein Radiosender und betreibt, wie Sie gerade sehen, auch Online-Journalismus. Aber, was wären die Journalisten ohne die vielen anderen Berufsgruppen an unserer Seite? Eine dieser Kolleginnen ist Edeltraud Jakobi aus der Personalabteilung. Sie kann zum Thema Wahlen in der DDR und zum Zusammenwachsen Deutschlands manches mehr berichten als viele Redakteurskollegen.

Marco Bertolaso im Gespräch mit Edeltraud Jakobi |
    Marco Bertolaso: Die Volkskammerwahl im März 1990, sie war die erste und einzige freie Wahl, die es in der DDR je gegeben hat. Über 93 Prozent der Stimmberechtigten zwischen Rostock und Lausitz ließen sich diese Chance nicht entgehen. Das Ergebnis war dann für viele überraschend: Nicht linke Parteien oder Bürgerrechtler gewannen, sondern das Bündnis „Allianz für Deutschland" um die ehemalige Blockpartei, die Ost-CDU. Das waren die Partner von Helmut Kohl aus dem Westen, der langsam davon ausgehen konnte, Kanzler der Einheit zu werden. - Über all diese Sachen möchte ich nun sprechen mit meiner Kollegin Edeltraud Jakobi. Hallo, Frau Jakobi!
    Edeltraud Jakobi: Hallo, Herr Bertolaso.
    Bertolaso: Frau Jakobi, Sie arbeiten schon einige Jahre hier bei uns, beim Deutschlandfunk, bei Deutschlandradio. In der DDR groß geworden, sind Sie dann später in den Westen gekommen. Vielleicht berichten Sie uns erst einmal über diesen Weg, über diese Erfahrung.
    Leben am Schlagbaum
    Jakobi: Ja, das kann ich gern tun. Meine Wurzeln liegen in Thüringen, genau genommen im Drei-Länder-Eck Hessen, Thüringen, Niedersachsen. Ich komme aus einem kleinen Landstrich, der nach dem Krieg geteilt wurde in zwei Besatzungszonen: in die englische und in die sowjetische. Ich war in der sowjetischen und bin dann nach der Wende, also dadurch, dass ich im grenznahen Raum gewohnt habe, konnte ich auch gut in den Westen, wenn ich das so sagen darf, „auswandern", um zu arbeiten. Ich habe zehn Jahre in Göttingen gearbeitet, bin wohnhaft geblieben in Thüringen, und 2004 hat es mich dann aus privaten und beruflichen Gründen nach Köln verschlagen, und seitdem wohne ich in Köln.
    Bertolaso: Und arbeiten hier dann auch....
    Jakobi: ... und arbeite hier auch.
    Bertolaso: Sie sagen, grenznaher Bereich. Das war ja noch mal was ganz besonderes. Ich nehme an, da waren die Sicherheitsvorkehrungen auch besonders scharf?
    Jakobi: Der Ort, aus dem ich komme, der ist ungefähr fünf Kilometer weg vom Schlagbaum. So hieß das damals. Am Schlagbaum war für uns Schluss. Da musste man einen Passierschein haben, um in das sogenannte Fünf-Kilometer-Sperrgebiet zu kommen, oder in das 500-Meter-Sperrgebiet. Um dort hinzugelangen, musste man aber Einladungen von Familienangehörigen, die dort lebten, haben und es musste genehmigt werden in Form eines Passierscheins. Ansonsten war für uns an dem Schlagbaum einfach Schluss.
    Heimlich Deutschlandfunk gehört und Westfernsehen gesehen
    Bertolaso: Kurz,vor mir sitzt eine Frau, für die die deutsch-Grenze nicht irgendwas aus dem Geschichtsbuch ist, sondern die sich noch sehr konkret an all die schwierigen Details erinnert. Haben Sie denn da, wo Sie in Thüringen gelebt haben, auch mal Deutschlandfunk gehört?
    Jakobi: Ja, habe ich gemacht, und zwar heimlich, weil es war einfach so, dass die Angst immer irgendwie ein bisschen mit dabei war, dass man abgehört oder beobachtet wurde, und wir haben wirklich heimlich Westradio und Westfernsehen empfangen. Was für mich speziell noch hinzukommt oder hinzukam: Mein Elternhaus stand und steht immer noch in einer Straße, die, ich sage mal, ein bisschen schwierig war. Wir hatten direkt als Nachbarn die SED-Kreisleitung, ein Stück weiter entfernt die Staatssicherheit und ganz oben am Ende der Straße die Nationale Volksarmee, so dass man sowieso immer das Gefühl hatte, dass man ganz besonders beobachtet wird, und insofern haben wir wirklich immer heimlich Westfernsehen geschaut und Westradio gehört. Aber dadurch waren wir natürlich auch immer gut informiert von allen Seiten. Wir wussten schon, dass da irgendwas nicht stimmt und dass man uns nicht unbedingt immer die Wahrheit über den sogenannten Klassenfeind sagt.
    Bertolaso: Frau Jakobi, wir sprechen ja, weil jetzt in diesen Tagen sich die Volkskammerwahl, die letzte, die einzige freie zum 25. Mal jährt. Sie haben es ja gesagt: Als junge Frau sind sie in der DDR groß geworden. Sie haben dort auch an Wahlen teilgenommen. Wie muss man sich einen Wahltag in der DDR vorstellen?
    Ein ganz besonderer Wahltag in der DDR
    Jakobi: Mein Wahltag in der DDR hat folgendermaßen ausgesehen: Ich war damals schon verheiratet. Mein Mann ist wählen gegangen und ich habe entschieden, das nicht zu tun, weil ich mit dem, was wir dort erleben mussten, nicht zufrieden war. Er ist dann zur Wahl gegangen und da wusste man sofort: Aha, seine Frau kommt nicht mit. Man hatte ihn gefragt, wo ist sie, warum kommt sie nicht. Dann hat er gesagt, sie kommt nicht mit, sie wählt nicht, sie möchte nicht. Das hat die Herren - es waren in der Tat drei Herren - dazu bewogen, sich mit meinem Mann in ein Auto zu setzen, und zwar in einen Lada, und kurzerhand zu uns nach Hause zu fahren, und dann standen die drei bei uns in der Wohnung und haben mich sozusagen verhört, weshalb ich nicht zur Wahl gehe. Dann habe ich ihnen so ein, zwei Sachen gesagt, beispielsweise weil wir schon ganz lange auf eine etwas größere Wohnung gewartet haben. Wir hatten mittlerweile zwei Kinder und haben auf ganz engem Raum gewohnt, und man hat die Wahl auch immer so ein bisschen als Druckmittel nutzen können, was allerdings auch mit einer gewissen Gefahr verbunden war.
    Bertolaso: Ist denn die Wohnung gekommen?
    Jakobi: Ja, in der Tat. Die haben wir tatsächlich auch bekommen, und das war so mein Wahlerlebnis.
    Bertolaso: Das ist ja nun auch wirklich ein ganz besonderes Erlebnis. - Wenn an einem Abend, wo gewählt worden war in der DDR, dann in der Aktuellen Kamera oder sonst diese überwältigenden Ergebnisse veröffentlicht wurden, haben sich die meisten denn auch was dabei gedacht, oder gab es viele Leute, die gedacht haben, so ist das eben, 98 Prozent stehen dahinter?
    Jakobi: Aus meinem Umfeld hat mit Sicherheit keiner gedacht, dass 98 Prozent dahinter stehen. Das war eigentlich ganz klar, dass das nicht der Realität entspricht einerseits. Und andererseits: Wenn man wählen gegangen ist, hatte man ja im Grunde gar nicht die Wahl. Es stand ja im Vorfeld schon fest, was passiert, und insofern: ich persönlich habe mich nie gewundert.
    Insgeheim mit Ergebnis der Volkskammerwahl 1990 gerechnet
    Bertolaso: Jetzt war es ja so, dass die Volkskammerwahl im Jahr 1990 dann doch überraschend für viele Beobachter auch im Westen, wo ja immer die ganz schlauen Politologen sind, die immer schon wissen, wie alles kommt, dass die einigermaßen überraschend nicht eher eine linke Regierung in der DDR gebracht haben, sondern eine Mehrheit, die konservativ war und für die Wiedervereinigung. Hat Sie das vom Stuhl gehauen, oder haben Sie insgeheim damit gerechnet?
    Jakobi: Ich habe insgeheim damit gerechnet. Das war im Grunde die Reaktion auf die 40 Jahre vorher, dass man einfach jetzt genau das Gegenteil macht von dem, was man vorher machen musste.
    Bertolaso: Praktisch eine Trotzreaktion, der Wille zur Einheit, verschiedene Sachen?
    Jakobi: Ja. Und man hatte natürlich auch die Hoffnung, dass es anders und besser wird mit anderen an der Führung, ist ja ganz klar.
    Bertolaso: Ist diese Hoffnung denn wahr geworden? Was würden Sie sagen so in zwei, drei Sachen, wenn Sie in Ihre Heimat zurückfahren hin und wieder? Wie sieht es da jetzt aus?
    Jakobi: Das ist sicherlich zweigeteilt dort und sicherlich auch woanders. Kommt immer darauf an: Wenn jemand sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, die Möglichkeit dazu bekommt und auch sich durchbeißt, dann ist es sicherlich positiv. Aber es gibt natürlich auch Menschen, die im Grunde genommen sich als Verlierer der Einheit fühlen, und die haben sicherlich einen anderen Blick auf die Dinge.
    Ein wenig stolz auf die beiden ehemaligen DDR-Bürger an der Spitze des Staates
    Bertolaso: Jetzt sind 25 Jahre vergangen, wir leben schon lange im vereinten Deutschland, an der Spitze unseres gemeinsamen Staates stehen zwei Menschen aus Ostdeutschland, wenn man das überhaupt sagen kann. Man könnte im Grunde ja auch sagen, zwei Norddeutsche: Angela Merkel aus Hamburg und Herr Gauck aus Rostock.
    Jakobi: Genau!
    Bertolaso: Aber beide sind wie Sie in der DDR groß geworden. Ist das noch irgendwie von Bedeutung für Sie? Ist das so ein kleiner Triumph, oder ist das ein Zeichen der Normalisierung? Wie finden Sie das?
    Jakobi: Triumph ist ein gutes Wort.
    Bertolaso: Warum?
    Jakobi: Ja, ich bin schon ein bisschen stolz darauf, dass ausgerechnet zwei ehemalige DDR-Bürger an der Spitze sind.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.