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(Un)gerechte Arbeitswelt

Viele Menschen finden in der Arbeitswelt keine Sicherheit mehr. Bei manchen reicht der Lohn kaum zum Leben, geschweige denn für eine ganze Familie. Ist das gerecht? Marianne Heimbach-Steins vom Institut für Christliche Sozialwissenschaften hat sich der Frage angenommen, wie es unsere Arbeitsgesellschaft mit der Ethik hält.

Von Klemens Kindermann | 02.04.2012
    Der Arbeitsmarkt in Deutschland, er hat seit dem Zweiten Weltkrieg viele Höhen und Tiefen erlebt. Zeiten allgemein besserer Beschäftigung wurden durch Krisenphasen mit hohen Arbeitslosenquoten abgelöst und umgekehrt. Taktgeber für die Arbeitsgesellschaft war die Konjunktur. Doch in den vergangenen Jahren hat sich hier etwas verändert. Deutlich abzulesen am letzten Aufschwung in Deutschland seit der Lehman-Krise 2008. Mit 3.028.000 sind zwar so wenige Männer und Frauen arbeitslos wie zuletzt zum Frühjahrsbeginn vor 20 Jahren. Doch: Gleichzeitig erhält fast jeder vierte Beschäftigte nur Niedriglohn. Die Arbeitsgesellschaft, sie klafft - trotz guter Konjunktur - immer mehr auseinander. Nicht alle Beschäftigten haben noch teil am Aufschwung. Manche sind dauerhaft in der modernen Arbeitsgesellschaft benachteiligt, werden nicht mehr vertreten, können ihre Rechte nicht geltend machen. Die Insolvenz der Drogeriemarkt-Kette Schlecker, betroffen vor allem Frauen mit mäßigen Löhnen, sie wirft in diesen Tagen nur ein Schlaglicht darauf.

    Ist die moderne Arbeitsgesellschaft noch gerecht? Diese Frage, sie ist hochaktuell, brisant und folgenreich. Das Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster, vom späteren Kardinal Joseph Höffner zum ersten Think Tank der jungen Bundesrepublik geformt, hat sich ihr jetzt angenommen. "Ethik der Arbeitsgesellschaft" heißt der Sammelband, in dem die neue, globalisierte und fragmentierte Arbeitswelt auf den Prüfstand gestellt wird. Institutsleiterin Professorin Marianne Heimbach-Steins hat das Buch herausgegeben:

    "Es kommt darauf an, neue Herausforderungen, Gefährdungen als Gerechtigkeitsfragen wahrzunehmen und die Spaltung zwischen denen, die Erwerbsarbeit haben, die daran teilhaben, und denen, die dauerhaft davon ausgeschlossen sind, als eine dringende Frage auf die Tagesordnung zu setzen, und zu unterscheiden: die Gerechtigkeitsbedingungen derer, die ein Lebensunterhalt sicherndes Einkommen haben, und derer, die, obwohl sie Vollzeit arbeiten, das nicht erwirtschaften können."

    Regina Görner, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, liest - äußerst spannend - in ihrem Beitrag für den Sammelband die Sozialenzyklika von Papst Leo XIII. "Rerum Novarum" neu, erschienen 1891 und erstaunlich aktuell:

    Ich bin sicher, Leo XIII. hätte einigermaßen verwundert auf den Stellenwert geblickt, der den Eigentümerinteressen, dem Shareholder-Value, mittlerweile eingeräumt wird ... Unternehmen gehen heute zunehmend dazu über, sich dem Beschäftigungsrisiko, wenn irgend möglich, zu entziehen. Dauerbeschäftigung planen sie in wachsenden Fällen nur noch ein, wo unverzichtbare Fachkompetenz zu schlechteren Bedingungen nicht mehr sichergestellt werden kann.

    Görner ist überzeugt: Den Kriterien von "Rerum Novarum" entspricht die Vorstellung von Arbeit als eines bloßen Rohstoffes nicht. Und eben dann auch nicht die heute das Arbeitsleben prägende Leih- und Zeitarbeit. Heimbach-Steins:

    "Ja, wir erleben eine Entwicklung, in der die Teilhabe an Erwerbsarbeit für viele Menschen unsicherer wird. Und das gilt nicht nur für den Zugang zu Erwerbstätigkeit, es gilt auch nicht nur für die langfristige Verlässlichkeit von Arbeitsverhältnissen, sondern es gilt eben auch für die Rechte in der Arbeit. Und das betrifft ganz besonders Leiharbeiter. Fürsorge des Arbeitgebers, Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unternehmen fehlen für diese Menschen weitgehend. Die sogenannten Randbelegschaften geraten in die ethisch ganz problematische Rolle, dass sie unter Umständen bloße Kostenfaktoren, Verfügungsmasse im Unternehmen sind."

    Gilt in der heutigen Arbeitsgesellschaft, die der Arbeitsmarktexperte Sascha Zirra in seinem Aufsatz als segmentiert beschreibt, überhaupt noch der Vorrang der Arbeit vor dem Kapital - beschworen von der klassischen katholischen Soziallehre, welche aber in ihrer aktuellen Wirksamkeit selbst im katholischen Polen von der Warschauer Politikwissenschaftlerin Aniela Dylus im vorliegenden Buch eher skeptisch beurteilt wird? Vorrang der Arbeit vor dem Kapital - auch Professorin Heimbach-Steins, Inhaberin des traditionsreichsten Lehrstuhls für Sozialethik in Deutschland, unterscheidet zwischen Realität und Anspruch:

    "Tja, empirisch gesehen muss man da wahrscheinlich ein Fragezeichen machen. Viele Erscheinungsformen der modernen Arbeitsgesellschaft lassen diese Prioritätensetzung offensichtlich vermissen. Die heißt ja nichts anderes, als dass der arbeitende Mensch und seine Würde Vorrang vor dem Shareholder Value, Vorrang vor den Gewinninteressen der Kapitaleigner haben.

    Normativ tut das aber keinen Abbruch daran, dass dieser Grundsatz, dieser Maßstab aufrechterhalten werden muss als ein kritisches Korrektiv, mit dem auf problematische Entwicklungen aufmerksam gemacht werden muss und der Anspruch einer verantwortlichen Mitgestaltung im Unternehmen und eben auch für die ganze Gesellschaft auch den Wirtschaftsakteuren zur Aufgabe gemacht werden muss."

    Diese verantwortliche Mitgestaltung im Unternehmen, sie wird unter den Bedingungen globaler Arbeitsteilung immer schwieriger. In einem sehr luziden Artikel identifiziert der Frankfurter Sozialethiker Friedhelm Hengsbach "Bruchlinien" gewerkschaftlicher Solidarität, beginnend bereits in Europa:

    Die gegenwärtige Phase der europäischen Einigung ermutigt nicht gerade zu euphorischer gewerkschaftlicher Solidarität über nationale Grenzen hinweg.

    Hengsbachs Analyse der Schwierigkeit von Interessenvertretungen für Beschäftigte über Branchen- und Ländergrenzen hinweg führt zur Kernfrage nach ethischen Standards in modernen Arbeitsgesellschaften. Sie sind zunehmend geprägt von multinational tätigen Unternehmen, sowohl Konzernen wie auch Mittelständlern.

    Wie global ein Arbeitgeber jedoch agiert: der schon in der Enzyklika "Rerum Novarum" beschriebene Grundsatz, dass die "Frucht der Arbeit" als rechtmäßiges Eigentum demjenigen folgen müsse, der die Arbeit vollzieht, dieser Grundsatz muss auch die Ethik einer modernen Arbeitsgesellschaft prägen. Oder, um es mit Marianne Heimbach-Steins zu sagen:

    "... man möchte da an die alte Einsicht erinnern, dass der Ertrag der Arbeit Eigentum des arbeitenden Menschen ist. Wer Vollzeit arbeitet, soll auch davon leben können."

    Marianne Heimbach-Steins (Hrsg.): Ethik der Arbeitsgesellschaft
    (Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften Band 52/2011)
    Aschendorff Verlag, 342 Seiten, 36,80 Euro
    ISBN: 978-3-402-10984-7