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Urban Sketching
Die kreative Antwort auf den Selfie-Wahn

Es geht theoretisch überall - ob an Bushaltestellen, auf Parkbänken oder in der Fußgängerzone: Urban Sketching. Das Zeichnen draußen in der Stadt entwickelt sich gerade zum neuen hippen Großstadt-Trend. Später tauschen sich die "Sketcher" online über ihre Bilder aus. Erste Kniffe und Tricks lassen sich in Workshops erlernen.

Von Julia Batist | 28.09.2015
    Eine Frau sitzt auf einer Parkbank und zeichnet
    Urban Sketching - Zeichnen in der Stadt - wird zum neuen Trend. (imago/stock&people/ZUMA)
    Zehn Kursteilnehmer stehen mit aufgeschlagenen Skizzenbüchern und einem Bleistift in der Hand im Stadtpark. Jeder soll einen Laub- und einen Nadelbaum zeichnen. Profi-Zeichner Jens Hübner gibt Tipps.
    "Es geht darum, dass es charakteristisch ist. Dass das kein Foto wird, nicht fotorealistisch wird."
    Die Ausrüstung: Skizzenbücher im Hemdtaschenformat, ein Bleistift, ein Spitzer. Zum Aquarellieren ein Reisepinsel mit Wassertank. Der Malkasten dazu im Retro-Design aus schwarzem Metall ist so groß wie eine Zigarettenschachtel. Um ein realitätsgetreues Abbild der Umgebung geht es hier niemandem.
    "Wir standen gerade zehn Minuten davor und wir haben halt überlegt wie machen wir das. Was lass ich weg? Nur die Bäume und den Kiosk. Ich kann im Prinzip selbst entscheiden, was ich wirklich darstelle. Und auf einem Selfie oder Bild dauert es nur eine Sekunde und ich habe eigentlich alles."
    Dem Reiz des Zeichnens verfallen immer mehr Leute auf der ganzen Welt. Jens Hübner ist ein Vorreiter der deutschen Urban Sketching-Szene. Der Berliner ist auf einer Weltreise darauf gekommen, das, was er sieht nicht einfach zu knipsen, sondern bewusst zu zeichnen.
    "Also ich bin letztes Jahr ein Mal um die Welt geflogen, da hab ich mit einer Japanerin gezeichnet, mit einer Urban Sketcherin, in Tokio haben wir da im Park gezeichnet. Und auch eine Brasilianerin, mit der ich dann auch in São Paulo gezeichnet habe.
    Es gibt sogenannte Sketch Crawls, wo man so von Standpunkt zu Standpunkt zieht, mit mehreren Leuten."
    In Foren werden Tricks ausgetauscht und Mitstreiter gefunden
    Grobe Striche, wenige Details - lernen kann man das "Sketching" schnell.
    "Ich find das ganz spannend zu sehen, wie leicht so was umzusetzen ist. Wenn man ein paar Regeln weiß, wie einfach das ist, dass so ein Bild entstehen kann."
    Weil es so einfach sein soll, versuche auch ich es - ohne Erfahrung oder Talent, wohl gemerkt. Das zeigt sich sofort:
    Reporterin: Den Baum werde ich ja vielleicht... jetzt bin ich zu weit in der Mitte?
    Hübner: "Untere Begrenzung, Grundlinie und obere Begrenzung. - Machen wir mal eine neue Seite."
    Reporterin: "Ok. Super, fängt ja gut an."
    Noch mal starte ich einen Versuch - eine Ente. Und mache einen klassischen Anfänger-Fehler.
    Hübner: "Der Kopf ist ein bisschen groß jetzt."
    Autorin: "Ja."
    Hübner: "Köpfe macht man gerne zu groß. Auch beim Menschen. Hände zu klein, Füße auch gerne zu klein."
    Ich schiele nach links und nach rechts, sieht natürlich alles besser aus, aber egal. Frische Luft, ein Skizzenbuch - und schon sind der Verkehr und der Großstadttrubel ausgeblendet. Ich bin ganz bei der Ente. Wenn auch nur für zehn Minuten.
    "Es ist halt die Frage wo man das entsprechend einbauen kann. Aber wenn man das ein paar Minuten zwischendurch machen kann, ist die Wahrscheinlichkeit größer, als dass man sich mehrere Stunden Zeit nimmt und dann einfach mal sich hinsetzt und in Ruhe zeichnet. Insofern hat das schon durchaus einen Reiz."
    In digitalen Foren können Urban Sketcher vergleichen, Tricks austauschen, Mitstreiter finden. Es gibt regelmäßige Treffen auf der ganzen Welt. Wieso nur ist dieses Zeichnen gerade jetzt so angesagt?
    "Zum einen denke ich, dass unsere Welt so digitalisiert ist, dass das eben auch so'n Bedürfnis ist, mit einem Stift und einem Blatt Papier was quasi handwerklich zu machen."
    "Auf das Wesentliche konzerntrieren"
    An einige Grundsätze versuchen sich alle Urban Sketcher zu halten. Zum Beispiel eher Handlungen in der Stadt als ländliche Stillleben zu zeichnen.
    "Es gibt ein Manifest der Urban Sketcher, das hat acht Punkte. Das Bedeutendste ist, dass sie draußen vor Ort zeichnen und dass sie die Zeichnung auch veröffentlichen."
    "Ich geh auch zum Akt zeichnen und da habe ich einen Akt veröffentlicht. Dann hab ich von dem Administrator von dieser Community einen Rüffel gekriegt. Ey, das ist nicht Urban Sketching, Akt zeichnen. Es sei denn Du zeichnest die Zeichner mit."
    Jens Hübner hat eine besondere Erfahrung zum Urban Sketcher gemacht:
    "Ich war irgendwann in der Sahara und hab dort übernachtet. Und die Eindrücke waren so gravierend, dass ich sagte, ich muss es irgendwie verarbeiten. Da hab ich mir in Kairo schwarzes Papier gekauft und Scherenschnitte gemacht. Dann hab ich Aquarelle gemalt. Und das war eine ganz langsame Art der Wahrnehmung."
    Und die macht scheinbar den Reiz aus:
    "Ich glaub, dass irgendwann es wieder so kommen wird, dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Wenn man zum Beispiel auf Reisen ist, man ist einfach ganz anders da, wenn man sich Zeit nimmt und irgendwie hinsetzt und ein paar Elemente skizziert, hat man ganz andere Erinnerungen dann von diesem Ort. Ich glaube das ist so das Schöne daran, dass man selbst noch kreativ ist und überlegt, was habe ich wirklich gesehen? Was war mir in dem Moment wichtig und was stelle ich halt auch dar."