Freitag, 19. April 2024

Archiv


Vera van Aaken: Männliche Gewalt. Ihre Wurzeln und ihre Auswirkungen

Frauen kennen dieses Gefühl: Sie kommen allein in eine Parkgarage und hören Schritte hinter sich. Sie drehen sich um und sehen eine Frau. Erleichterung macht sich breit. Gewalt geht schließlich meistens von Männern aus, weiß die Alltagserfahrung. Nicht dass Frauen immer nur freundlich und friedlich wären, doch auch prügelnde Mütter, KZ-Wärterinnen und kriegstreibende Politikerinnen stellen das männliche Gewaltmonopol nicht ernsthaft infrage. Wie aber ist die aggressive männliche Dominanz historisch entstanden? Sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nur biologisch bedingt, welche Wirkungen hat die Evolution auf das Verhalten des männlichen Geschlechts ausgeübt; welche Rolle spielt die Sexualität, ist männliche Gewalttätigkeit das Produkt kultureller Entwicklungen? Die Psychologin Vera van Aaken hat sich auf die Suche nach den Wurzeln männlicher Gewalt gemacht. Rolf Pohl hat ihr Buch für uns besprochen:

Rolf Pohl | 19.03.2001
    Im jüngsten Bericht über Folter weist Amnesty International darauf hin, dass jede fünfte Frau Opfer körperlicher oder sexueller Misshandlungen wird. Das Spektrum der Gewalt gegen Frauen und Mädchen reicht von Genitalverstümmelungen über Massenvergewaltigungen im Krieg bis hin zu Tötungsdelikten. Und diese offenen Formen von Gewalt finden sich keineswegs nur in fernen Gegenden oder vermeintlich "rückständigen" Gesellschaften. In Deutschland wird, wie das Familienministerium berichtet, durchschnittlich jede siebte Frau mindestens einmal vergewaltigt oder sexuell genötigt.

    Auffällig, und bisher nur unzureichend erforscht, ist jene nach wie vor rätselhafte, gegen Frauen und Weiblichkeit gerichtete Vermischung von männlicher Sexualität und Aggression. Unter dem reißerischen Titel "Sex und Evolution. Das animalische Erbe des Menschen" stellte der SPIEGEL im April 2000 die provokativen Befunde der Evolutionspsychologen Thornhill und Palmer vor. In ihrer "Naturgeschichte der Vergewaltigung" versuchen die beiden US-Wissenschaftler nachzuweisen, dass Vergewaltigung ein "natürliches Erbe der Evolution sei". Damit er nicht als "Irrläufer der Evolution" ende, werde der Mann von einem biologischen Zwang getrieben, seine Gene "in die nächste Generation zu befördern". Dieser "Egoismus der Gene" mache ihn seit den Urzeiten primitiver Hordenexistenz zu einem potentiellen und tatsächlichen Vergewaltiger.

    In ihrem Buch "Männliche Gewalt. Ihre Wurzeln und ihre Auswirkungen" setzt sich Vera van Aaken gründlich mit diesen soziobiologischen Grundannahmen auseinander. Auf der Basis einschlägiger Befunde der vergleichenden Verhaltensforschung, der Neurobiologie und der Hormonforschung kommt sie zu diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen und zeigt damit die Grenzen einer reinen Naturgeschichte des Geschlechterverhältnisses deutlich auf. Weder körperliche oder geistige Überlegenheit, noch spezielle Hormonausschüttungen und schon gar nicht ein eingebauter "Killerinstinkt" habe gattungsgeschichtlich eine natürliche Vorherrschaft des Mannes ergeben.

    Die Evolution habe die Männer deutlich anfälliger für Frustrationen, Stress und Angst gemacht. Das bedeute: Männer neigten zum Zwecke der Abwehr ihrer Angst grundsätzlich stärker zu Wahrnehmungsverzerrungen und "emotionaler Blindheit", insbesondere aber zu aggressiven Reaktionen, sowie zu einem erhöhten Kontrollbedürfnis ihrer Umwelt gegenüber; und das habe, ähnlich wie bei Ratten und Tauben unter experimentellen Stressbedingungen, fatale Konsequenzen:

    "Als ausweglos erlebte Situationen führen leicht zu destruktivem Verhalten und münden bei männlichen Individuen schneller in Zerstörungswut (...). Familientragödien resultieren aus dieser Konstellation. Frauen und Kinder als verfügbare Anwesende und als die Schwächeren werden zu unschuldigen Opfern sinnloser Angriffe von Männern, die sich (aus welchem Grund auch immer) in die Enge getrieben fühlen."

    Aber, und hier wechselt van Aaken die Perspektive ihrer Untersuchung von einer Natur- zu einer Kulturgeschichte der männlichen Gewaltbereitschaft: dieser destruktive Mechanismus sei weder zwangsläufig, noch biologisch zwingend. Erst die Entstehung des Patriarchats habe mit seiner Förderung aggressiver und kriegerischer Aktivitäten dafür gesorgt, dass diese Mechanismen die Männer fortan zu bestimmen begannen.

    Spätestens hier, wenn nicht schon beim Lesen der nicht ganz unbescheidenen Ausführungen im Vorspann, die einen gänzlich "neuen Blick auf die Gewalt" versprechen - spätestens hier beginnt die große Schwierigkeit, einigermaßen gelassen weiterlesen zu können. Ausgehend von der, philosophischen Tiefsinn andeutenden Grundsatzfrage "Wir Menschen - wer sind wir?" erhebt das Buch keinen geringeren Anspruch, als eine umfassende, allgemeingültige Entwicklungsgeschichte männlicher Gewalt und Herrschaft zu verfassen. Was die Lektüre so ärgerlich macht ist die Tatsache, dass van Aaken das evolutionstheoretische Schlichtmodell der Soziobiologen durch mindestens ebenso schlichte, teilweise vollkommen abwegige Spekulationen über die menschliche Gattungsgeschichte ersetzt. Ihre Argumentation ist so abenteuerlich wie die Prämisse, die ihr zugrunde liegt. Van Aaken leitet die Geschichte der pauschal als "Patriarchat" gefassten Ausgrenzung, Unterdrückung und Beherrschung der Frauen durch die Männer aus der jähen Beendigung eines idyllischen Urzustands harmonischer, friedfertiger und gleichberechtigter Geschlechterbeziehungen ab. Damit glaubt sie das allgemeine "Grundgesetz der Evolution" erkannt zu haben: nicht Egoismus und Gewalt, sondern "wechselseitige Förderung", das Beachten von Anderen steigere "Lebendigkeit", erfülle mit Freude und erweise sich als segensreich für das eigene Leben. Freie Kommunikation in spielerischer Form und auf der Basis sexueller Gleichberechtigung prägten das Gruppenleben und die Geschlechterbeziehungen schon beim Homo habilis vor ca. 2,5 Millionen Jahren!

    "Es entspricht einer natürlichen Entfaltung, wenn sich intensivierte Kommunikation im Bereich von intensiven sozialen Bindungen entwickelt. (...) Zu-Wendung war der erste Schritt für einen erweiterten - geistigen - Austausch. (...) Im Gegensatz zu Affen (...) mußten unsere Vorfahren Zuwendung, Nähe und Kommunikation selbst (...) entdecken. Sie entdeckten all dies mit Hilfe der Sexualität, durch Erotik. Emotionsgeladene Sexualität lud Frau und Mann ein, sich einander zuzuwenden, Zeit miteinander, füreinander zu verbringen, so daß ein Funken zwischen ihnen überspringen konnte und den Weg ebnete zu jenem intersubjektiven Geschehen, aus welchem Bewußtsein entspringt."

    Diese pathetischen, bis in die menschliche Vorgeschichte rückprojizierten Schwärmereien über paradiesische Urzustände haben nicht das geringste mit historischer Forschung oder philosophischer Ideenlehre zu tun. Sie ähneln den Beschwörungen von Ganzheitlichkeit und Glückseligkeit in manchen esoterisch oder psychotherapeutisch angehauchten Selbsterfahrungsgruppen der Gegenwart. Das spätestens seit der tröstenden Erbauungsliteratur Alice Millers auch bei uns eingebürgerte und inflationär gebrauchte Zauberwort "Empathie" stellt für van Aaken den Schlüssel dar, mit dem sie Sprache, Ich-Bildung und schließlich die Evolution des menschlichen Bewusstseins seit dem Altpaläolithikum zu erklären versucht: Das einfühlsam erzeugte "Affektecho" zwischen Mann und Frau in der Ur-Familie führte:

    "(...) zu einer Gleichschwingung, zu einer Parallelisierung der inneren Zustände, und eröffnete Menschen die neue Welt des Zwischen - die Welt des Geistes, der zwischen Menschen entsteht. (...) Als Bewußtsein entstand und menschliche Wesen (...) - angeleitet durch Empathie - sich in eine Verschränkung ihrer Perspektiven begaben, evolvierten sie zu neuen, übergeordneten Gesamtzuständen."

    Der so aus dem prähistorischen Geschlechterverhältnis entsprungene Geist machte Geschichte, war damit aber gleichzeitig auch für das Patriarchat, für die Entstehung von Unterdrückung, Ausbeutung und Mord verantwortlich. Hier stellt sich für van Aaken nun die alles entscheidende Frage:

    "Wie konnte das geschehen? Was hat bewirkt, daß der Freude schaffende, idyllische Kontext des Anfangs sich so veränderte, das Bewußtsein Gewalt hervorbrachte?"

    Van Aakens Antwort ist überraschend und schlichtweg ergreifend: männliche Dominanz, Macht und schließlich jede Form von Herrschaft stellt das Ergebnis eines "geistigen Fehlurteils" des Mannes über sich selbst, seinen Körper und seine sexuellen Möglichkeiten dar. Das Ende harmonischer Geschlechterbeziehungen resultierte danach aus der folgenschweren Entdeckung des Mannes, seinen Penis sowohl als Zeugungsorgan, als auch als Waffe benutzen zu können.

    "Durch diese Gleichsetzung wurde das männliche Selbstgefühl tiefgreifend verändert: die Waffe unterwarf das Tier - sichtbar und effektiv. (...) Deshalb machte die Gleichsetzung von Penis und Waffe Männer zu Subjekten mit Waffen, während die der Waffe Unterworfenen sich als ihre Objekte darboten. Sexualobjekte - das waren zunächst die zu tötenden Tiere. (...) Mit der Entdeckung der Zeugung erweiterte sich für einige Männer das Spektrum der Objekte: Männer (...) begaben sich nun im Bewußtsein ihrer unterwerfenden und lebenschaffenden Potenz in den Raum der Frauen, um zu zeugen. (...) Diesen Männern wurde der Penis zu einer zeugenden Waffe; und Frauen wurden ihnen zu neuartigen Sexual-Objekten."

    Hinzu trat ein historisches Element, so van Aaken weiter, das entscheidende Anstöße für die Ausbildung "extrem patriarchalischer Systeme" gab: das Reiten und die besonders von indogermanischen Reiterhorden entdeckte und kultivierte Züchtung von Pferden.

    "Wo Männer begannen, Pferde zu zähmen und zu züchten, bildeten sich von Männern dominierte Gesellschaften heraus. (...) Diese Männer bezwangen mit ihrem Willen und ihren Schenkeln Pferde. Sie entdeckten die Lust, andere Wesen zu unterwerfen und ihrem Willen gefügig zu machen. Sie wurden erfüllt mit einem Gefühl sinnlicher Macht - und brachen auf, auch Frauen zu unterwerfen."

    Einmal als Patriarchat etabliert, durchzieht für van Aaken die immer wieder neu aufgelegte "Fehlinterpretation des männlichen Körpers" und die daraus entsprungene Neigung zu Gewalt und Mord die gesamte Geschichte bis in die Neuzeit, ja bis zu den Kriegen und Massenvernichtungen des 20. Jahrhunderts. Demnach war Hitlers Wahn nichts anderes als der "konsequent realisierte Wahn des Patriarchats" der sich im Bild des Mannes als Waffenträger verdichtet. In letzter Konsequenz lässt sich selbst der Holocaust aus diesem universell gültigen "Fehlurteil" des männlichen Geistes herleiten. Erst die Pferde, dann die Frauen und nun die Juden: van Aakens Buch lässt leider diese zynisch klingende Lesart einer angeblichen Genealogie der Opfer männlicher Gewalt zu. Abgesehen vom Ausmaß und vom Grad der Perfektion, gebe es zwischen der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten und ihrem wirklichen Vorläufer, der Verbrennung von Frauen zu Zeiten der Hexenverfolgungen, keine grundsätzlichen Unterschiede. Die Singularität des Holocaust erscheint somit als bloße Behauptung, die erfunden wurde, um die wirkliche Ursache der nationalsozialistischen Massenverbrechen, den in grauer Vorzeit fehlgeleiteten männlichen Geist und seine universellen Auswirkungen zu verschleiern.

    Dieses Buch ist inhaltlich und sprachlich eine Zumutung. Van Aaken hat mit ihm ein naives, pseudowissenschaftliches Märchen über Ursprung und Folgen der bösen Gewalt im bösen Patriarchat geschrieben, ein Buch voller Klischees, Auslassungen und Fehler, das weit hinter den aktuellen Stand der Geschlechterforschung zurückfällt. Entgegen der vollmundigen Verlagsankündigungen ist dieses Buch mit Sicherheit eines auf gar keinen Fall: ein Grundlagenwerk über die männliche Gewalt auf dem neuesten Stand der Forschung.

    "Männliche Gewalt - Ihre Wurzeln und ihre Auswirkungen" von Vera van Aaken. Das Buch ist im Patmos Verlag erschienen, hat 432 Seiten und kostet 49,80 DM.