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Verlust der Freiheit

Der Historiker Hans Ulrich Wehler adelte vor einigen Jahren vergleichende Studien in der Geschichtswissenschaft. "Die komparative Analyse”, so hielt er fest, gehört "zu den höchsten Künsten der Geschichtswissenschaft.” Wer wollte da noch widersprechen?

Ulrich Kurzer | 19.01.2004
    Natürlich sind historische Vergleiche auch nach diesem gewichtigen Urteil immer noch umstritten, weil die Gefahr besteht, Unvergleichbares zu vergleichen. Vor allem der Vergleich von NS-Diktatur und DDR ist äußerst konfliktträchtig. Hier vermischten sich in den 1950er- und frühen 1960er Jahren die politischen Feindbilder des Kalten Krieges mit dem "Modell totalitärer Herrschaft”, das auf die Politikwissenschaftler Brzezinsky und Friedrich zurückgeht. Mit einem groben Raster sechs "entscheidender Wesenszüge” sollte die Realität von Diktaturen analysiert werden. Nazi-Deutschland und die DDR wurden hiernach zu totalitären Diktaturen erklärt, weil es den Herrschenden gelungen sei, sich Staat, Wirtschaft und Gesellschaft völlig zu unterwerfen.

    In den 1970er Jahren verlor der Totalitarismusansatz an Bedeutung. Doch der Niedergang der Sowjetunion und die deutsche Einheit ließen ihn wieder aufleben. Seit einigen Jahren werden aber auch vergleichende Studien zur NS-Zeit und DDR durchgeführt, die bewusst über den begrenzten Ansatz des Totalitarismuskonzepts hinausweisen. Ergebnisse dieser Forschungen präsentiert nun ein Sammelband, den der Leipziger Historiker Günther Heydemann und der Politologe Heinrich Oberreuter herausgegeben haben. Um es vorweg zu nehmen: Trotz einiger Schwächen verdient dieses Buch, über die Fachwissenschaft hinaus, ein großes Publikum. Außer Frage steht für Günther Heydemann, dass beide, der NS-Staat und die DDR, Diktaturen waren.

    Sie waren in ihrem Kern antidemokratisch, antipluralistisch und freiheitsberaubend, aber natürlich gibt es zwischen beiden Diktaturen große Unterschiede, das ist gar keine Frage. Der Rassen- und Vernichtungskrieg der Nazis ist singulär, ist einzigartig, (so was hat das SED-Regime Gott sei Dank nie getan), d.h. die kriminelle Energie des NS-Regimes war wesentlich größer als die des SED-Regimes, und es gibt natürlich auch noch andere beträchtliche Unterschiede, etwa in der Weltanschauung, in der Ideologie und nicht zuletzt auch im Wirtschaftssystem - um nur die wichtigsten zu nennen.

    In der Einleitung des Sammelbands entwerfen Heydemann und der Historiker Detlef Schmiechen-Ackermann ein Forschungsdesign, das sich deutlich von der alten Totalitarismusforschung abgrenzt. Günther Heydemann über deren Schwächen und den neuen Forschungsansatz:

    Das Problem liegt darin, dass im Grunde genommen nur Beschreibungen vorgenommen werden, nicht, dass also bestimmte Strukturmerkmale, etwa, dass es Geheimpolizeien gibt oder dass es ein Waffenmonopol geben soll, dass es eine Ideologie gibt, was natürlich unbestreitbar ist, und alles solche Kriterien, aber: Sie haben das Problem, dass sie sozusagen nicht weit genug reichen, sie beschreiben nur, sie analysieren aber nicht richtig. Und unser Ansatz ist nun, einfach tiefer zu gehen und dem Problem nachzugehen: Wie ist denn diese totalitäre Intention, die beide Diktaturen völlig parallel gehabt haben, eben dass sie die Gesellschaft komplett beherrschen wollten, wie ist denn die überhaupt umgesetzt worden, wie konnte sie überhaupt umgesetzt werden, und wie ist sie bei der Bevölkerung, bei den Menschen, angekommen?

    Die 18 Beiträge im Buch spannen einen weiten Bogen: von der Kleinkinderziehung über die Hochschulpolitik zu betriebsgeschichtlichen Studien von Unternehmen, die in beiden Systemen bestanden. Das Verhältnis der Herrschenden zu Medien und Öffentlichkeit wird ebenso untersucht wie die Kirchenpolitik oder die Rolle der Bildungsschichten im NS-Staat und der DDR. Die jeweiligen Besonderheiten beider Diktaturen lassen sich so, wie Günther Heydemann erläutert, in zwei Schritten herausarbeiten:

    Wir gehenvon einem sogenannten Makro-, also einem Großvergleich aus, in dem die Strukturen der beiden Diktaturen, die auch durchaus unterschiedlich sind, einmal zusammengefasst und verglichen werden. Das ist sozusagen die Vorinformation, bevor man in einen sogenannten Mikro-, in einen Kleinvergleich hineingeht, bei dem man sich dann ganz bestimmte Objekte aussucht, Untersuchungsgegenstände, die in beiden Diktaturen mehr oder weniger unverändert gewesen sind und dadurch vergleichbar werden. (...) Und auf diese Weise bekommen wir eben eine sehr viel genauere und präzisere Rekonstruktion des historischen Ablaufes zu Wege, die dazu führt, dass wir wirklich in das Herz der Diktaturen, in ihren Mechanismus und in die zum Teil fatalen Auswirkungen hineinstoßen.

    Von besonderem Interesse beim Vergleich der Diktaturen sind zwei Instanzen: die Partei als Träger der politisch-ideologischen Vorstellungen und der Polizeiapparat, der die politischen Kritiker und Gegner bekämpfte. Doch die Zentralen von Terror und Unterdrückung werden nicht behandelt. Über die Gestapo und das Ministerium für sucht man vergeblich nach vergleichenden Analysen. Der an den Biographien von MfS-Generälen orientierte Aufsatz von Ruth Bettina Girn und Jens Gieseke lässt keinen Einblick darüber zu, wie die Repressionsapparate funktionierten. Nicht überzeugen kann zudem ihre Aussage, die NS-Sicherheitspolizei und der Sicherheitsdienst der SS, aber auch die Stasi, seien in "revolutionären Umbruchphasen” entstanden! Einmal abgesehen davon, dass nur die Nazis selbst ihren Terror als Revolution verstanden; nach 1945 war der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands von einer "revolutionären Umbruchphase” weit entfernt. Ohne die Besatzungsmacht wäre kaum etwas gegangen!

    Den jeweiligen Einfluss von NSDAP und SED in der staatlichen Verwaltung im Land Sachsen untersuchen Mike Schmeitzner und Andreas Wagner. Sie arbeiten heraus, dass dort im Jahr 1933 sehr viel mehr Kontinuität herrschte als nach 1945. Sowohl die Organisation der Behörden als auch ihre personelle Zusammensetzung waren 1933 sehr viel geringeren Eingriffen unterworfen als nach Kriegsende. Das ist so neu nun nicht, verweist aber auf eine wichtige Differenz beider Diktaturen.

    Den Zugriff von NSDAP und SED auf die sächsische Verwaltung bezeichnen die Autoren als "Machtergreifung”. Hier muss widersprochen werden! Zum einen weisen sie selbst schon darauf hin, dass dieser Ausdruck dem "Sprachgebrauch der NS-Zeit entstammt”. Und zum anderen: Bei allen Kontroversen um den Begriff steht "Machtergreifung” in der Geschichtswissenschaft meistens für den Beginn der NS-Diktatur, und es gibt überhaupt keine wissenschaftliche Notwendigkeit, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen von NS-Regime und SED-Diktatur auf einen falschen gemeinsamen Nenner zu bringen!

    Detlef Schmiechen-Ackermann bearbeitet in einem weiteren Beitrag die lokale Gliederung der beiden Parteien. Ein wichtiger Unterschied: Während die SED die Bevölkerung über die Betriebe erfasste, versuchte die NSDAP Gleiches über die Wohnstätten. Mit fast zwei Millionen sogenannter Blockwarte, die regelmäßig berichteten und im Privaten spionierten, ein enormer Aufwand. Abgesehen von einigen vorläufigen Vermutungen bleibt das Ausmaß und die Qualität des Zugriffs auf die DDR-Bevölkerung am Wohnort aber leider offen. Hier besteht noch Forschungsbedarf.

    Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis langjähriger Untersuchungen zum Vergleich der Diktaturen in Deutschland. Die Vergleichbarkeit von NS- und SED-Staat hat eine definitive Grenze. Sie wird in der Einleitung durch die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen markiert. Vor dem Hintergrund dieser Prämisse gehen die einzelnen Aufsätze der Frage nach, wieweit es den Diktaturen tatsächlich gelang, die Gesellschaft zu "durchherrschen”. Die Beiträge überzeugen vor allem dort, wo die Unterschiede zwischen NS-Staat und DDR herausgearbeitet werden. Das differenzierte Forschungsdesign der Einleitung spiegelt sich dabei nicht in jedem einzelnen Aufsatz wider. Dies wird besonders dort deutlich, so sich begriffliche Unschärfen der zitierten Art finden. Der Erfolg weiterer vergleichender Untersuchungen wird entscheidend davon abhängen, ob und wie es gelingt, die Forschungsergebnisse in präzise Begriffe zu fassen.

    Diktaturen in Deutschland - Vergleichsaspekte, Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen

    Herausgegeben in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung von Günther Heydemann und Heinrich Oberreuther. Der 591 Seiten starke Band ist nicht im normalen Buchhandel erhältlich, sondern kann zum Preis von 2 Euro zuzüglich Versandkosten bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt werden - auch über deren Internetseite www.bpb.de