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Verräterischer Blick

Es gibt eine Reihe von psychologischen und physiologischen Messmethoden, die mögliche pädophile Neigungen von Erwachsenen nachweisen sollen. Täuschungsresistent ist allerdings keines dieser Verfahren. Forscher aus Göttingen haben eine Methode entwickelt, die nicht so leicht manipuliert werden kann: das Untersuchen von Blickbewegungen.

Von Leonie Seng | 20.11.2012
    Studien mit pädophilen Probanden sind immer eine Herausforderung, erklärt Peter Fromberger:

    "Es ist sehr zeitaufwendig, weil es einfach relativ wenig Leute gibt. Und die Leute, die es gibt, sind meistens nicht unbedingt bereit, bei so etwas mitzumachen, das heißt, man muss sehr viel Motivationsarbeit leisten, um die Leute zu motivieren, dass sie bei solchen Forschungsdingen überhaupt mitmachen. Es schwebt doch immer die Angst im Hinterkopf: Wenn die irgendetwas herausfinden und dann geht das an das Gericht, dann habe ich ein Problem."

    Peter Fromberger, Diplom-Psychologe an der Universität in Göttingen, untersuchte mit seinen Kollegen die Augenbewegungen von pädophilen Männern, während sie Fotos von nackten Kindern und Erwachsenen betrachteten. Eye-tracking heißt diese Methode. Der Vorteil: Mittels Eye-tracking können vor allem automatische Aufmerksamkeitsprozesse gemessen werden. Diese automatischen Prozesse zeigen sich durch die allererste Fixierung beim Betrachten eines Bildes, die ohne willentliche Kontrolle eines Menschen geschieht. Die Annahme: Wohin der Blick als erstes fällt, dort liegt das größte Interesse einer Person.

    "Also das ist jetzt ein Video von einem pädophilen Probanden. Die gelben Kreise signalisieren die Fixationen. Eine Fixation ist ein Zeitpunkt, in dem das Auge relativ ruhig ist und wo Informationsaufnahme stattfindet – nur das werten wir dann letztendlich auch aus. Und Sie können jetzt hier sehen: Hier würde die erste Fixation jetzt auf das Kind gehen. Und diese erste Fixation, die Zeit bis diese erste Fixation stattfindet und der Ort, wo diese erste Fixation hingeht, das sind Marker, Variablen, auf deren Basis man Rückschlüsse über automatische Prozesse ziehen kann."

    Die Göttinger Psychologen baten 22 pädophile Männer, Bilder von nackten Kindern und Erwachsenen anzusehen. Alle pädophilen Teilnehmer hatten bereits sexuelle Angriffe auf Kinder verübt. Sie waren gerichtlich verurteilt worden und von mindestens einem psychiatrischen Gutachter nach dem psychologischen Standard ICD-10 als pädophil eingestuft worden. Außerdem nahmen noch acht anderweitig psychisch erkrankte Menschen und 52 gesunde Menschen an der Studie teil.

    Auf einem Computerbildschirm sahen die Probanden verschiedene Bildpaare, auf denen jeweils ein Mädchen und eine Frau zu sehen waren oder ein Junge und ein Mann. Eine spezielle Infrarot-Kamera zeichnete jeden Blickwechsel detailliert auf. Nach fünf Sekunden Betrachtungszeit sollten die Probanden eine Frage beantworten: War eine dieser Personen für sie sexuell attraktiver?

    Diese Frage stellten Peter Fromberger und seine Kollegen allerdings nur, um die Teilnehmer vom wesentlichen Kern der Aufgabe abzulenken. Denn was die Göttinger Psychologen wirklich interessierte, war längst vorbei: Die initiale Orientierungsphase.

    "Diese initiale Orientierungsreaktion, das kennt man auch von Angstreizen. Es ist schon sehr lange bekannt, dass Menschen evolutionär bedingt... wenn jetzt hier irgendwo eine Spinne oder eine Schlange ist, dass das unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das ist eine initiale Orientierungsreaktion. Und es gibt eben aktuelle Modelle, die davon ausgehen, dass auch sexuelle Reize so ähnlich funktionieren wie Angstreize und unsere automatische Reaktion auf sich ziehen."

    Der erste, automatische Blick aller pädophilen Probanden fiel auf die Kinderbilder. Die nicht-pädophilen Probanden blickten hingegen zunächst auf die Fotos der Erwachsenen. Außerdem war die Reaktionszeit bis zur ersten Fixation bei den pädophilen Probanden kürzer als bei den nicht-pädophilen Probanden, schreiben die Psychologen in ihrer Studie im "Journal of Abnormal Psychology". Die Forscher wählten dabei bewusst Bilder mit weitgehend neutralen Gesichtern und zudem in schwarz-weiß aus, um andere Ursachen für die Blickausrichtung auszuschließen.

    Peter Fromberger und seine Kollegen gehen davon aus, dass das Modell der initialen Orientierung nun auch auf pädophile Männer übertragen werden kann. Im Gegensatz zur automatischen, ersten Fixation, blickten jedoch sowohl Pädophile als auch Nicht-Pädophile insgesamt gemessen länger auf die Fotos der Erwachsenen. Die Betrachtungszeit eines Fotos insgesamt ist bewusst kontrollierbar. Daher nehmen die Göttinger Psychologen an, dass die pädophilen Probanden absichtlich länger auf die Erwachsenenbilder blickten, um ihre sexuelle Neigung für Kinder vor den Versuchsleitern zu verschleiern.

    Gegenüber anderen Methoden zeichnen sich beim Eye-tracking klare Vorteile ab: So können beispielsweise Probanden in expliziten Verfahren wie der Selbstbefragung falsche Aussagen über ihre sexuellen Neigungen machen. Ebenso wenig vor Täuschung gefeit und zudem unangenehm für alle Beteiligten ist eine Methode, die hauptsächlich im englischsprachigen Raum angewandt wird. Hierbei wird der Blutstrom im Penis eines Mannes gemessen, während er Bilder von möglicherweise sexuell interessanten Personen ansieht.

    Allerdings ergeben sich auch bei der Interpretation automatischer Prozesse Schwierigkeiten. Doktor Roland Imhoff von der Universität zu Köln weist zum Beispiel darauf hin, dass ein starkes sexuelles Interesse an einem Objekt zwar oft zu einer schnellen und länger andauernden Aufmerksamkeitshinwendung führe. Jedoch könne daraus nicht unbedingt schließen, dass der erste, automatische Blick ein sexuelles Interesse widerspiegelt. Denn, so schreibt Roland Imhoff in einer E-Mail:

    "Ein starkes Interesse kann viele verschiedene Gründe haben und sexuelles Verlangen ist nur einer davon. Für einen Kinderarzt etwa, der sich professionell mit Kindern beschäftigt, kann ein frühe Aufmerksamkeit resultieren aus habituierter Sorge oder professionellem Interesse."

    Außerdem kann man nach Roland Imhoff nicht davon ausgehen, dass die automatischen Prozesse mehr über eine Person aussagen als die kontrollierten Prozesse. Für eine sichere Diagnose sollten daher beide Prozesse eine Rolle spielen.

    Auch das Göttinger Psychologen-Team selbst sieht die Eye-tracking-Methode zwar als guten Ansatz zur Erfassung von Pädophilie – von einer praktischen Anwendung sei die Methode jedoch noch weit entfernt, meint Peter Fromberger. Noch wissen die Forscher zu wenig über die Methode, als dass sie bereits in der Individualdiagnostik eingesetzt werden könnte. Größere Stichproben müssen in Zukunft noch zeigen, ob der Rückschluss von automatischen Fixationen auf sexuelles Interesse tatsächlich gültig ist. Auch noch unklar ist bislang, ob die automatischen Prozesse auch gefälscht werden können. Für zukünftige Diagnosen halten die Psychologen daher eine Mischung aus mehreren Methoden für sinnvoll. Nur so ließen sich die Ungenauigkeiten der einzelnen Methoden ausschließen.