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Vier Landessprachen in der Alpenrepublik

Alemannisch, Französisch und Italienisch wird in der Schweiz zu unterschiedlichen Anteilen gesprochen. Doch ein fast verschwindend kleiner Anteil, nämlich 0,5 Prozent der Eidgenossen sprechen Rätoromanisch. Vorrangig im Kanton Graubünden.

Von Janina Labhardt | 01.04.2012
    Rätoromanisch - sowohl gesungen als auch gesprochen - klingt für Laien wie ein Sprachengemisch von Italienisch, Latein, Rumänisch und Katalanisch. Die vielen SCH-Laute und rollenden "R" machen Rätoromanisch zu einer weichen Sprache - ideal für gefühlvolle Lieder. Die Sängerin dieses rätoromanischen Liedes ist Judit Scherrer, ein leichter Mezzosopran. Die zierliche Frau mit schwarzen Haaren und aufgewecktem Blick stammt aus den Bergen der rätoromanischen Schweiz, lebt aber derzeit in Süddeutschland. Am liebsten singt sie in ihrer Muttersprache:

    "Angefangen habe ich auf Rätoromanisch zu singen, denn ich bin Rätoromanin und natürlich ist meine Muttersprache Rätoromanisch. Zuerst waren die rätoromanischen Lieder im Kindergarten und in der Schule und auch daheim. Und dann, als ich studieren ging, kamen auch andere Sprachen dazu."

    Heutzutage, nach Studien im österreichischen Feldkirch und in Amsterdam, arbeitet Judit Scherrer als Lied- und Oratoriensängerin. Sie verfügt über ein Repertoire mit lateinischen, italienischen, deutschen und englischen Texten. Aber, so betont die Sängerin, arbeite sie am liebsten in rätoromanischer Sprache, wo sie eben verwurzelt sei.

    Was ist denn der Unterschied beim Singen zwischen einem Lied in ihrer Muttersprache und in einer Fremdsprache?

    "Es ist vielleicht nicht anders zu singen, es ist eine andere Vorarbeit. Man übersetzt zuerst gerne in Rätoromanisch, das, was man singt und es entstehen dann andere Bilder dadurch. Also wenn ich zum Beispiel eine deutsche Oper singe, stelle ich mir die Wörter und Sätze auf Rätoromanisch vor. Es ist wirklich tief in der Seele. Man singt aus der Seele."

    Wie Judit Scherrer legt auch Arno Carmenisch in seiner Muttersprache viel Wert auf Klang und Rhythmus - aber nicht etwa in der Musik, sondern in Texten.

    "Ein Text ist immer eine Arbeit mit Klang und Rhythmus. Das ist extrem wichtig. Ein Text ist nicht nur ein Inhalt, den man vermittelt oder erzählt, sondern auch eine Reflexion auf die Sprache."

    Arno Carmenisch ist Autor von Romanen, Theaterstücken und Poesie. Als mehrfacher Literaturpreisträger ist er die große Hoffnung für den Literaturnachwuchs.
    Seine literarische Zweisprachigkeit sieht der gebürtige Bündner als Chance für seinen Erfolg. Die sprachliche Ambivalenz fordere ihn heraus und sein Exotendasein als Rätoromane lädt ihn zu einem Spiel zwischen Nähe und Distanz ein, erzählt der Wortvirtuose mit zerzaustem Haar.

    Sein erstes auf Deutsch verfasstes Prosa-Buch heißt "Sez Ner". Es ist zweisprachig erschienen: Auf der linken Seite steht es auf Deutsch, auf der rechten auf Rätoromanisch. Zwei Mal dieselbe Geschichte in kurzen Abschnitten. Vorhang auf für Arno Carmenisch:

    Die Geschichte beschreibt das Leben eines Senns, der mit einem Zusenn und zwei Hirtenbuben den Sommer auf einer Alp verbringt. Das einsame Leben, umgeben von hohen Schneebergen, der auf seine Kuhherde aufpasst und vor allem dem Wind und Wetter ausgesetzt, lassen die Geschichten in der Geschichte einen Film im Kopf ablaufen. Aber: Wie sollte man als Leserin oder als Leser vorgehen, wenn man kein Rätoromanisch versteht, Arno Camenisch? Ist dann die Hälfte des Buches vergeblich gekauft?

    "Das stimmt nicht! Man versteht es, wenn man will. Je nach dem hat es ein Wort drin, das man nicht versteht, aber das sich aus dem Kontext erschließt. Das ist eine Frage, was hab ich als Leser für eine Haltung dem Buch gegenüber. Bin ich bereit, ein Wort mal stehen zu lassen, das vielleicht dasteht, weil es mit dem Klang zu tun hat, vielleicht ist es auch ein Resonanzwort auf ein Wort, das am Anfang kommt. Wie gehe ich an Text heran, also im Sinne von: Was will der Text und nicht: Was will ich vom Text. Und dann ist alles kein Problem."

    Einfacher gesagt als getan. Das neuste Buch von Arno Carmenisch heißt "Ustrinkata", also in Anlehnung an Austrinken, und handelt von tragisch-komischen Geschichten über den Tod und das Vergessen, über Naturgewalten, menschliche Abgründe und Liebeswirren. Das jedoch erschien nur in deutscher Sprache.

    Rätoromanisch ist vor dem Aussterben bedroht: Nur noch ca. 35.000 Menschen sprechen aktiv rätoromanisch. Über passive Sprachkenntnisse verfügen circa. 70.000, weiß Iso Camartin. Er ist Romanist und hatte einen Lehrstuhl an der Universität Zürich für die Rätoromanische Literatur und Kultur.

    "Es ist natürlich von der Menge der Sprecher natürlicherweise eine Kleinsprache, eine Minderheitensprache. Es gibt im Graubünden das sogenannte Kerngebiet oder Gemeinden, wo das Rätoromanisch nach wie vor die Hauptsprache ist. Wenn jemand in eine Gemeinde zieht mit einer rätoromanischen Grundschule, dann muss er, egal ob er aus Portugal oder Deutschland oder wo auch immer kommt, muss er seine Kinder in eine rätoromanische Schule schicken. Es gibt vor allem in den stärkeren Kerngebieten, das ist das Vorderrheintal und im Unterengadin, da gibt es Gemeinden, wo man ohne Rätoromanisch nicht durchkommt."

    Iso Carmartin lächelt verschmitzt. Er sagt, dass es eigentlich nicht "das Rätoromanisch" gibt, sondern fünf Idiome, also eigenständige Sprachen, die auch eine eigene Schriftsprache haben.

    Besonders früher, als die Ortschaften und Täler voneinander abgeschieden waren, entwickelte sich das eigene Idiom isoliert. Untereinander können sie sich im Vergleich zu früher immer besser verständigen, was vor allem mit den Medien zusammenhängt. Man könne bei einem rätoromanischen Sprecher oft sofort erkennen, aus welchem Dorf er oder sie stammte.

    Iso Camartin ist allerdings mit allen fünf Idiomen vertraut.
    "Nun gibt es Versuche, das zu standardisieren, weil der Kanton sagt, es kostet viel zu viel, das Rätoromanische für so wenige Leute in so vielen Varianten zu drucken. Es sind eigentlich mehr Spargründe, die dazu führen, dass man sagt, vereinfachen wir es doch. Irgendwann wird man sich finden, es wird hoffentlich kein Sprachenkrieg ausbrechen (lacht)."

    Inzwischen kann man sogar das Abitur, was in der Schweiz die Matur ist, auf Rätoromanisch machen.

    Obwohl diese Minderheitensprache bloß von 35.000 Menschen gesprochen wird, hat sie in den vergangenen Jahren eine große Anerkennung als vierte Landessprache der Schweiz erfahren - von stiefmütterlicher Behandlung also keine Spur. Vielleicht hat dazu auch folgendes Motto geholfen:

    "Eine der Sprüche, die wir haben, der lautet: ... Das bedeutet: Wer rätoromanisch kann, kann mehr als die Anderen!"

    Dazu passt ein rätoromanisches Liebeslied, gesungen von Bündnerin Judit Scherrer.