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"Viva Mexico!"

Drogenkrieg, Gewalt, Armut, aber auch lange Sandstrände und Tourismus. Mexiko ist ein Land der Extreme. Allein in der Hauptstadt leben heute mehr als 20 Millionen Menschen. Sie feiern in diesen Tagen die 200-jährige Unabhängigkeit ihres Landes von Spanien.

Von Martin Polansky | 16.09.2010
    Es begann mit einem Schrei:

    "Viva Mexico!"

    So ähnlich muss es geklungen haben, als am frühen Morgen des 16. September 1810 der Pfarrer Miguel Hidalgo zum Aufstand gegen die spanischen Kolonialherren aufrief. Der Schrei gilt als Auftakt des mexikanischen Unabhängigkeitskampfes und wird jedes Jahr in der Nacht auf den 16. September wiederholt. Die mexikanischen Präsidenten rufen ihn vom Balkon des Nationalpalastes am Zocalo – dem großen Platz mitten in der Hauptstadt:

    "Viva Mexico, Vivan los heroes."

    Nach dem Schrei des Pfarrers Hidalgo dauerte es freilich noch elf Jahre, bis Mexiko auch formal unabhängig wurde. Hidalgo war längst hingerichtet von den Spaniern, der Kampf war blutig. Und auch danach folgten Jahrzehnte der Wirren: Machtkämpfe zwischen Liberalen und Konservativen, diktatorische Präsidenten und ausländische Interventionen – mal standen US-Truppen in Mexikos Hauptstadt, mal schickte Frankreich Soldaten. Das Mexiko, wie wir es heute kennen, ist eigentlich erst ein Ergebnis der Revolution vor hundert Jahren – als Emiliano Zapata und Pancho Villa Demokratie und Landreform erkämpften. Die mexikanische Geschichte ist reich an Helden und tragischen Figuren.

    La Paloma – ein Lieblingslied von Maximilian dem Ersten. Er steht für die vielleicht bizarrste Episode der mexikanischen Wirren im 19. Jahrhundert. Der im Wiener Schloss Schönbrunn geborene Adelige war der jüngere Bruder von Kaiser Franz Josef dem Ersten und ein Schwager von Sissi. Ein Schöngeist mit Fernweh – Eigenschaften, die ihm zum Verhängnis wurden. Um 1860 tobte in Mexiko ein Machtkampf zwischen den Konservativen im Land und den Liberalen um Präsident Benito Juarez. Der hatte auch Frankreich gegen sich, das ausstehende Schulden einforderte. Napoleon der Dritte schickte Truppen nach Mexiko und suchte einen Statthalter. Die Wahl fiel auf Maximilian. Die Historikerin Erica Pani erklärt, warum sich Maximilian auf die ferne Krone einließ:

    "In dieser Zeit herrschte in Europa ein großes Interesse an Mexiko und seiner präkolonialen Kultur. Maximilian dachte zwar, er würde sich auf den Thron von Moctezuma setzen, aber tatsächlich wusste er wenig über das Land: nur dass Mexiko vom Bürgerkrieg zerrüttet ist. Er dachte, er könnte die Wunden heilen."

    Maximilian hatte erwartet, in der neuen Welt ein Kaiserreich mit liberalen Zügen aufbauen zu können. Er wollte Vermittler sein zwischen den Konservativen, die an den kolonialen Strukturen festhielten, und den Liberalen, die für ein gerechteres Mexiko kämpften. Aber Maximilian geriet zwischen die Fronten. Die Liberalen lehnten ihn als fremden Herrscher sowieso ab. Und die Konservativen brachte er auch gegen sich auf – unter anderem, weil er versuchte, die Rechte der indigenen Mexikaner zu stärken:

    "Ich glaube, die Politik Maximilians gegenüber den Indianern ist einzigartig. Er erlebt, dass sie keinerlei Rechte haben und sehr schlecht behandelt werden. Er sieht sich als eine Art Erlöser und gründet einen Schutzbund. Dabei geht es ihm nicht um die Rechte der indigenen Bevölkerung, wie wir sie heute verstehen. Maximilian will ihre Gleichberechtigung - und nicht den Schutz ihrer Traditionen."

    1867 – drei Jahre nach seinem Amtsantritt war sein Schicksal besiegelt. Die Liberalen um Benito Juarez bekamen Unterstützung durch die USA, die auch Waffen lieferten. Denn in Washington wollte man den europäischen Einfluss auf dem amerikanischen Kontinent nicht länger hinnehmen. Die französischen Truppen in Mexiko wurden zum Rückzug gezwungen. Maximilian stand nun ganz alleine da - ein Kaiser ohne Gefolgschaft. Ein Kriegsgericht verurteilte ihn zum Tode. Am 19. Juni 1867 wurde Maximilian der Erste hingerichtet. Noch heute sind Überreste der kaiserlichen Räume in Schloss Chapultepec in Mexiko-Stadt zu besichtigen.

    Mexiko-Stadt heute – einer der größten Ballungsräume der Welt. Mehr als 20 Millionen Menschen leben hier. Zwei von ihnen sind Elvira und Octavio.

    Elvira Rios Garcia, 38, ist Hausangestellte. Nach der fünften Klasse hat sie die Schule verlassen und seitdem gearbeitet. Zumeist als Hausmädchen. Elvira hat zwei Kinder, die bei der Großmutter wohnen – etwa neun Stunden entfernt mit dem Autobus. Einen Wagen hat sie nicht. Mit ihrem Mann wohnt sie einem kleinen Häuschen zur Miete. Elvira hat Mexiko noch nie verlassen.

    Octavio Aguilar Valenzuela, 52, ist Unternehmensberater. Er hat an einer privaten Universität studiert, so wie seine drei Kinder auch. Alle haben ein eigenes Auto. Octavio ist geschieden und wohnt in einem großen Apartment, das er gekauft hat. Der Unternehmensberater hat ein Jahr in Spanien gearbeitet und war schon in den USA, Indien und vielen Ländern Europas. Die Hausangestellte Elvira und der Unternehmensberater Octavio – zwei ganz unterschiedliche Mexikaner. Eins aber haben sie gemeinsam: Sie lieben ihr Land:

    "Ich finde es toll, wie schön Mexiko ist: unsere Strände, das Meer, die Ruinen, unser Kunsthandwerk. Das gefällt mir wirklich."

    "Für mich steht die kulturelle Vielfalt an erster Stelle: vom sehr Indianischen bis zum Hochmodernen. Mexiko ist einzigartig, was die Geschichte, Kultur, Erziehung, Musik - und was das Essen betrifft. Es ist ein sehr reiches Land und das macht zumindest mich sehr stolz."

    Jenseits des Rio Bravo. Gringos gegen Mexikaner. Ganze Volkslieder gibt es in Mexiko über den Krieg gegen die USA. Und den Verlust des Nordens und damit rund 40 Prozent des mexikanischen Territoriums. Am 2. Februar 1848 war die Abtrennung besiegelt. Mit dem Vertrag von Guadelupe Hidalgo, einem Ort, der zum heutigen Großraum Mexiko-Stadt gehört. Die Historikerin Josefina Vazquez vom Colegio de Mexico:

    "Es ist weiterhin eine offene Wunde. Wir fühlen uns als Verlierer. Aber was blieb uns denn übrig. Für viele Mexikaner ist es ein Problem anzuerkennen, dass wir nicht gewinnen konnten."

    Die Gebiete im Norden waren Mitte des 19. Jahrhunderts nur dünn besiedelt – durch katholische Missionsstationen und Bauern. Mexiko war durch die Wirren im Kernland geschwächt. Gleichzeitig hieß es beim nördlichen Nachbarn: Go West. Die USA begannen, Gebiete wie Texas, Neu-Mexiko oder Kalifornien für sich zu beanspruchen. 1846 erklärten die Nordamerikaner den Krieg. Die Gebiete im Norden wurden praktisch im Handstreich von den US-Truppen eingenommen, so die Historikerin Josefina Vazquez:

    "Zum einen gab es die Expansion der USA, zum anderen die Schwäche Mexikos. Die anderen hatten die Waffen, Schiffe und Geld. Wir hatten nur eine Armee, um den Norden zu verteidigen, der noch dazu kaum besiedelt war. Das ist die Ironie der Geschichte. Wir haben den Norden verloren, weil wir dort nicht genügend Menschen hatten. Und wir besiedeln ihn jetzt seit dem 20. Jahrhundert, auch wenn er nicht mehr zu uns gehört."

    Tatsächlich. Seit 1848 ist der Norden zwar für Mexiko verloren. Aber spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es eine Art Re-Mexikanisierung durch die Arbeit suchenden Immigranten. Gut jeder dritte Bewohner von Kalifornien ist heute Latino, in Neu-Mexiko beinah jeder zweite. Der US-Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington warnte bereits in seinem 2004 erschienenen Buch "Who are we" vor einer Art Kulturinvasion durch die Latinos. Viele US-Amerikaner würden die Grenze zum Süden am liebsten ganz dicht machen, damit die damals eroberten Gebiete nie mehr mexikanisch werden.

    Die Meldungen machen Angst und sind manchmal kaum zu glauben. Etwa die über die Mörder im Dienstwagen. Eine Feier war gerade im vollen Gang in Torreón, im Norden Mexikos, als plötzlich Autos hielten und geschossen wurde. 17 Menschen starben im Kugelhagel. Und die Mörder fuhren wieder davon - in ihren Dienstwagen. Die Hintergründe der Tat verschlugen selbst den vom Drogenkrieg gebeutelten Mexikanern die Sprache. Die Täter von Torreón waren Gefängnisinsassen, die von der Direktorin der Anstalt losgeschickt wurden, um für ein Drogenkartell zu töten. Freigang auf mexikanisch. Es ist ein schwer fassbarer Krieg, der da tobt, sagt der mexikanische Schriftsteller und Journalist Juan Villoro:

    "Es gibt keine Fronten, kein Hinterland. Keiner weiß, wo der Feind sitzt und wen er infiltriert hat. Die Regierung hat dazu keine ernsthaften Untersuchungen in den eigenen Reihen durchgeführt. In den letzten vier Monaten wurden neun Bürgermeister ermordet, die offensichtlich nicht mit den Drogenkartellen paktieren wollten. Sie waren damit schutzlos."

    Das Drogengeschäft verspricht Milliardengewinne. Die Nachfrage nach Kokain und Marihuana ist vor allem in den USA riesig, aber auch in Mexiko gibt es viele Konsumenten. Chapo Guzman, der Chef des sogenannten Sinaloa-Kartells, ist laut Forbes-Liste einer der hundert reichsten Männer der Welt. Die Drogenkartelle sind bestens ausgerüstet mit Waffen – in vielen Regionen Mexikos haben sie Einfluss auf Politik, Polizei und Justiz. Staatschef Felipe Calderon traut den örtlichen Behörden nicht – auch deshalb hat er 50.000 Soldaten in Bewegung gesetzt, im Kampf gegen die Kartelle. Aber nachhaltige Erfolge sind nicht zu erkennen. Statt dessen gibt es jedes Jahr mehr Tote. Und Calderons Reden klingen inzwischen wie Durchhalteparolen:

    "In diesem entscheidenden Moment müssen wir unsere Reihen schließen, müssen verstehen, dass die Kriminellen unsere Feinde sind. Alle staatlichen Instanzen und die Gesellschaft müssen dazu beitragen, dieser Geißel ein Ende zu setzen."

    Aber der Drogenkrieg eskaliert – und eine Lösung scheint nicht in Sicht. Manche fordern, Drogen schrittweise zu legalisieren, um wenigstens in Mexiko das Geschäft der illegalen Kartelle zu erschweren, ihre Gewinne zu verringern. Andere glauben, dass erst wieder Ruhe einkehrt, wenn der Staat den Krieg gegen die Drogenkartelle aufgibt. Eine Art Waffenstillstand. Nach dem Motto: Der Staat lässt die Drogenbanden in Ruhe ihre Geschäfte machen - und die bringen dafür weniger Leute um. Der Kampf gegen die Drogenkartelle im eigenen Land lässt auch Elvira und Octavio nicht kalt – die Hausangestellte und den Unternehmensberater. Aber beide wohnen in Mexiko-Stadt, weit weg vom Drogenkrieg, unter dem vor allem der Norden des Landes leidet. Octavio und Elvira fühlen sich daher sicher:

    "Ich habe keine Angst. Hier ist alles ruhig. Klar hört man immer wieder, dass es gefährlich ist. Gerade für die Leute, die versuchen, in die USA zu kommen. Mein Mann sagt mir manchmal, dass er wieder zurück möchte. Aber ich bin dagegen, es ist viel zu gefährlich. Erst kürzlich haben sie ja viele Migranten umgebracht."

    "Ich fühle mich absolut sicher und mache das Gleiche wie vor einem Jahr, einem Monat, einer Woche. Ich reise durch das Land wie immer und werde es auch weiterhin tun. Du musst nur wissen, wie du dich bewegst. In meinen 52 Jahren haben sie mir hier noch nicht einmal den Geldbeutel gestohlen. In anderen Ländern schon: in Europa, in den USA, in Südamerika aber noch nie in Mexiko."

    Guadelupe in Mexiko-Stadt. Einer der größten Wallfahrtsorte der Welt. In die moderne Kathedrale passen etwa zehntausend Gläubige. An Sonntagen ist hier jede Stunde Gottesdienst. Und die riesige Kirche ist immer voll. Manche Gläubige bewegen sich auf Knien über das Gelände – vor Ehrfurcht. Priester weihen von kleinen Bühnen aus gekaufte Jesus-Bilder oder Marienstatuen. Mexiko ist eines der größten Länder der katholischen Welt. Aber in dem vermeintlich so katholischen Land hat sich einiges geändert – abzulesen an den Familien. In den sechziger Jahren war das Familienbild noch eine klare Sache. Heirat mit 16 oder 18, im Schnitt sieben Kinder, der Mann ging arbeiten, die Frau kümmerte sich um die Kleinen. Und die Kirche war die moralische Institution. Heute ist vieles anders.

    MexFam in Mexiko-Stadt, eine Organisation für Familienplanung. Ofelia Aguilar ist die nationale Projektleiterin.

    "85 Prozent der Mexikaner sind katholisch, aber 70 Prozent benutzen inzwischen Verhütungsmittel. Das zeigt, dass sie wohl nicht so konservativ sind, sondern versuchen, selber zu bestimmen, ob und wann sie Kinder haben wollen. Wenn all diese Leute nicht mehr in die Messe dürften, dann wären die Kirchen wohl leer."

    Tatsächlich zeigt die Familienplanung in Mexiko Wirkung. Die Geburtenzahlen sind drastisch zurückgegangen, das früher steile Bevölkerungswachstum ist deutlich abgebremst. In den Städten bekommen die Frauen heute im Schnitt 1,8 Kinder, auf dem Land noch um die vier. Und: Viele Frauen erziehen ihre Kinder inzwischen alleine. Sei es, weil der Mann in den USA arbeitet und nur ab und an zu Besuch kommt. Oder weil sich die Frauen von den Vätern getrennt haben. Das Frauen- und Familienbild ist also im Wandel. Aus Sicht des mexikanischen Weihbischofs Jonas Guerrero Corona eine schlechte Entwicklung:

    "Vor 30 Jahren wurde gesagt, die kleine Familie lebt besser. Aber das war ja wohl eine Illusion. Auch die kleine Familie muss arbeiten und kämpfen. Es ist weder für große noch für kleine Familien leicht. Aber in der großen Familie gibt es mehr Zusammenhalt, mehr Gemeinsinn und eine gesündere Entwicklung als in einer kleinen Familie."

    Traditionen und Werte bewahren. Vehement verteidigt der Klerus sein Nein zu Verhütungsmitteln. Und als Tabubruch kritisiert er zwei neue Gesetze in Mexiko-Stadt. Dort sind Abtreibungen bis zur 12. Woche jetzt legal und Homosexuelle können heiraten. Die Kirchenführung läuft Sturm gegen die Homo-Ehe. Neue Familienbilder, andere Lebensweisen. Auch in Mexiko sieht sich die katholische Kirche mit dem Wertewandel konfrontiert – die Gottesdienste sind trotzdem immer noch voll. Die Hausangestellte Elvira und der Unternehmensberater Octavio glauben beide an Gott und sind katholisch. Trotzdem spielt die Kirche für die zwei Mexikaner eine ganz unterschiedliche Rolle:

    "Ich gehe gerne in die Kirche. Ich bin katholisch, vielleicht nicht hundertprozentig, aber zu 70 oder 80 Prozent schon. Es gefällt mir, in der Kirche mitzumachen, Gebetszirkel finde ich gut. Ich glaube an die Heiligen und an den lieben Gott."

    "Die Kirche hat an Macht verloren, weil sie sich nicht an die Zeiten anpasst. Ihre Botschaft hat nichts mit der Realität auf der Welt oder in Mexiko zu tun. Sie mischen sich auch in nebensächliche Themen ein, etwa die Diskussion über Homo-Adoptionen. Ich fühle mich sehr entfernt von der Kirche."

    Zweihundert Jahre Mexiko – mit dem Blick zurück auf den Auftakt der Unabhängigkeit feiert sich das Land nun selbst. Mexiko taucht ein in die grün-weiß-rote Trikolore. Schulfrei für die Kinder, Feiertage für die Erwachsenen.

    "Ich habe noch keine besonderen Pläne gemacht. Aber es ist ein besonderer Jahrestag. Zweihundert Jahre sind einfach dekorativer."

    "Ich schaue mir die Feiern im Fernsehen an, bei einem kleinen Abendessen. Ich mag die Menschenmassen auf den Plätzen nicht, das ist mir auch zu gefährlich. Vor einigen Jahren wurden bei der Feier in Morelia Bomben gezündet - mit Verletzten und Toten, das war schrecklich. Deshalb gehe ich da nicht hin und bleibe lieber zu Hause."