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Vive la mélancolie

Das nach langer Umbaupause wieder eröffnete Pariser Grand Palais hat sich in einer Ausstellung mit zweihundert Exponaten aus unterschiedlichen Epochen dem Thema Melancholie genähert. Für Victor Hugo war sie "das Vergnügen, traurig zu sein", Hippokrates hielt sie für eine Krankheit, verursacht von der Galle, und Aristoteles wunderte sich, dass große Staatsmänner oder Künstler oft melancholisch sind.

Von Björn Stüben | 12.10.2005
    Was haben die Grabstele des Demokrit aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert und Edward Hoppers Bild "Kino in New York" von 1939, oder die bunte Holzbüste eines Straßburger Meisters aus dem 15. Jahrhundert und Vincent van Goghs Bildnis des Docteur Gachet von 1890 gemeinsam? Alle stellen sie offenbar nachdenklich ins sich gekehrte Figuren dar. Mal ist es die rechte, mal die linke Hand, die dem sichtlich gedankenschweren Haupt Halt gibt. Und sie alle sind jetzt gemeinsam mit über zweihundert weiteren Exponaten im Pariser Grand Palais in der Schau "Melancholie" zu bestaunen. Ohne Zweifel kann sich jeder Ausstellungsbesucher etwas unter dem Begriff der Melancholie vorstellen, aber sicher werden nicht alle hiermit die gleichen Gedanken und Bilder verbinden.

    So positiv wie bei der deutschen Band "Ideal" Anfang der 1980er Jahre stellt sich der Gemütszustand der Melancholie in seiner langen Kulturgeschichte nicht immer dar, eher ganz im Gegenteil. Der griechische Arzt Hippokrates von Kós hielt um 400 vor Christus den Überschuss an schwarzer, verbrannter Galle, auf Altgriechisch melancholia, der sich ins Blut ergießt, für den Zustand der Schwermut oder des Trübsinns verantwortlich. Diese medizinische Erklärung sollte sich noch fast 2000 Jahre lang in den Köpfen halten, während das Urteil über die Melancholie sich häufig änderte, wie es auch der Untertitel "Genie und Wahnsinn im Abendland" der von Jean Clair, dem Direktor des Pariser Picassomuseums zusammengestellten Ausstellung bereits andeutet. Es war vermutlich Aristoteles, der als erster der Melancholie etwas Positives abgewinnen konnte, denn er soll sich gefragt haben: "Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?"

    Eine kleine römische Bronze des Ajax, der seinen Kopf aufstützend über den Selbstmord nachdenkt, eröffnet die Schau und verkörpert den antiken, melancholischen Helden. Einige Jahrhunderte später werden auch christliche Eremiten in der einsamen Wüste und Mönche von der Melancholie heimgesucht. Jetzt ist ihr nichts Positives mehr abzugewinnen. Sie kommt entweder daher als Faulheit, auf Lateinisch acedia, die den sieben Todsünden zugerechnet wird oder aber als böse Versuchung wie es ein oberrheinischer Meister um 1520 am Beispiel des Heiligen Antonius, der von Dämonen belagert wird, in der Ausstellung vorführt. Auch Otto Dix nimmt sich 1944 des Themas an und liefert Antonius den Lockungen einer nackten Frau aus. Hätte dieser doch schon die Ratschläge der Hildegard von Bingen gekannt, die im 11. Jahrhundert schrieb: "Und ein Mensch, in dem die Melancholie wütet, der hat ein finsteres Gemüt und ist immer traurig. Und dieser trinke den Wein mit der gekochten Aronwurzel und er mindert die Melancholie in ihm, das heißt, sie verschwindet, wie auch das Fieber." Die vielleicht bekannteste Darstellung der Melancholie ist auch in der Schau zu finden, Albrecht Dürers Stich von 1514. Engelsgleich sitzt hier die weibliche Personifikation der Melancholie am Bildrand, umgeben von merkwürdigen Gegenständen wie einem Hammer, Nägeln, einer Sanduhr, einem Zirkel, einem Kompass, einer Kugel und vor allem dem an zwei Ecken abgestumpften, großen Würfel, der auf die edelste der freien Künste verweist, die Geometrie. Auf diesen rätselhaften Stich Albrecht Dürers bezieht sich in der Ausstellung der mit Museum der Melancholie betitelte Raum. Er soll einem Kuriositätenkabinett ähneln.

    Zu finden sind hier eine Kristallkugel, die bei Berührung einst Heilung von der Melancholie versprochen haben soll, Folianten über Geometrie und Perspektive und vor allem wieder der Zirkel, die Sanduhr und andere Gegenstände, die Dürer seiner Melancholie zugeordnet hatte. In der Mitte des Raumes taucht wieder der unregelmäßig abgestumpfte Würfel auf. Dieser ist jetzt aus Gips und 1933 von Alberto Giacometti geschaffen. Deutlicher könnte die Strahlkraft des Dürer'schen Stichs auf nachfolgende Künstlergenerationen kaum manifestiert werden. Was die Schau anschließend zu entdecken anbietet, ist weitaus weniger packend. Im frühen 17. Jahrhundert sinkt der Stellenwert der Melancholie wieder auf das Niveau einer mentalen Krankheit, die immer häufiger und deutlicher mit dem Nachdenken über den Tod in Verbindung gebracht wird. Werke von Goya, Füssli und später von Böcklin werden hierbei am deutlichsten. Düstere Federzeichnungen von Baudelaire leiten zur modernen Kunst über, die mit Werken von Edvard Munch, Giorgio De Chirico, Auguste Rodin bis Edward Hopper und Anselm Kiefer vertreten ist. Die Themen sind jetzt die Einsamkeit, der Weltschmerz, der Liebeskummer oder die Verzweifelung. Die Melancholie als facettenreiche Inspirationsquelle für die bildenden Künstler hat von der Antike bis in die Gegenwart beinahe nur Meisterwerke entstehen lassen. Kreativität und Melancholie liegen wie schon Aristoteles ahnte, offenbar dicht beieinander. So konnte auch Victor Hugo feststellen: "Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein."