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Von Ost nach West

Luo Lingyuan verließ China ein Jahr nach dem Massaker an der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing. Als sie 1990 im Alter von 26 Jahren nach Berlin übersiedelte, waren es jedoch nicht politische Gründe, derentwegen sie China verlassen hatte, sondern die Liebe. Inzwischen ist schreibt Luo Lingyuan auf Deutsch.

Von Lerke von Saalfeld | 04.05.2007
    " Ich stehe in der chinesischen Erzähltradition, dass man nur erzählt, ohne Urteile zu fällen. Sehr uralt. Es hat sehr viele gute Werke gegeben und man hat gesehen, der Autor hat sich immer sehr stark zurückgehalten. Er hat versucht, jeden Charakter darzustellen und die Geschichte so wenig wie möglich zu verurteilen. Es gibt eine starke chinesische Erzähltradion, man erzählt prall, in sehr kurzen Kapiteln wird sehr vieles erzählt. Das mag ich sehr und deswegen habe ich auch versucht, in meinem Buch so ganz dicht zu erzählen. "

    Luo Lingyuan verließ China ein Jahr nach dem Massaker an der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing. Als sie 1990 im Alter von 26 Jahren nach Berlin übersiedelte, waren es jedoch nicht politische Gründe, derentwegen sie China verlassen hatte.

    " Ich war aus Liebe hergekommen, ich habe einen deutschen Sinologiestudenten in Shanghai kennen gelernt, dann waren wir verliebt ineinander, haben geheiratet und sind rübergekommen. Ich hatte in Shanghai ein Jahr Deutsch gelernt als zweite fremde Sprache, Man kriegte vier Stunden in der Woche. Ich denke, ich habe sicher ein paar Sätze gelernt, aber als ich rüberkam, habe ich nichts verstanden. Die Leute haben viel schneller gesprochen und die haben einfach andere Sachen gesprochen, das war für mich ein Schock, aber ich habe Berlin dann sehr gemocht. "

    Inzwischen ist Luo Lingyuan deutsch schreibende Schriftstellerin. In den letzten zwei Jahren hat sie zwei Bücher veröffentlicht - zunächst einen Band Erzählungen: "Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock!", dann den Roman "Die chinesische Delegation", erschienen im Februar 2007. Die Erzählungen spielen in China, umfassen den Zeitraum die achtziger/ neunziger Jahre. Alle Geschichten, gleichgültig ob sie in der Provinz oder in der Großstadt spielen, erzählen vom beschnittenen Glück, von Partei- und Staatswillkür, aber auch von der brutalen Gewalt der Eltern, die unter dem Druck der Verhältnisse ihre Menschlichkeit verloren haben und die eigenen Kinder quälen und peinigen. Die Titelgeschichte schildert den verzweifelten Kampf eines Bauern gegen die staatliche Vorgabe, nur ein Kind zu haben. Der Bauer hat bisher nur Töchter, und die gelten in China wenig. Ein Mädchen, so der Volksmund, ist Tausendgold wert, ein Junge jedoch Zehntausendgold. Der Bauer versteckt seine schwangere Frau, die einen Sohn zur Welt bringen soll, in einem unterirdischen Verlies seines Hofes. Der staatliche Aufseher sucht vergeblich nach ihr und lässt schließlich einen Bulldozer anrollen, der das Gehöft des Bauern bis auf die Grundfesten zerstört. Die junge Mutter, ihr neugeborener Sohn und der Großvater werden zu Tode zermalmt. In seinem Schmerz nimmt der Bauer Rache. Er geht in die Provinzstadt, ins Büro des verantwortlichen Funktionärs, und schmeißt ihn aus dem Fenster, er macht wahr, was der Titel ankündigt: "Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock!" Von ähnlicher Härte sind auch alle anderen Geschichten, die Luo Lingyuan über das heutige China in einer schnörkellosen, sehr eindringlichen Sprache erzählt:

    " Das sind die sehr starken Eindrücke, die ich in China gewonnen habe, die mich nicht losgelassen hatten und deswegen habe ich mich dafür entschieden, das Buch zu schreiben. Es waren Erinnerungen, die mich nicht in Ruhe lassen, die mich lange gequält und beschäftigt haben. So dachte ich, ich will diesen Menschen, die in der Gesellschaft eine schwache Position haben, ein Buch widmen. "

    Die Autorin ist sich bewusst, heute, selbst wenn das kulturpolitische Klima offener geworden ist, könnten diese kritischen Geschichten in China noch nicht erscheinen. Sie betont jedoch:

    " Ich denke, das chinesische Volk ist durch Konfuzius ein bescheidenes und freundliches Volk. Aber durch die Geschichte Chinas, besonders durch die Kulturrevolution sind die Menschen sehr verroht. Es hat eine Zeit gegeben, wo der Herr die Gewalt ist. Viele Menschen haben keine normale Moral mehr, die Moralwerte sind versunken. Deswegen habe ich versucht, China so darzustellen, wie ich es erlebt habe. Es war bedrückend. Jetzt, nach der Öffnung Chinas, hat es sich langsam verändert. Man hat die Welt gesehen, man wollte auch von der Welt ein bisschen aufnehmen, ein Weltmarkt werden und ganz normale Manieren haben...Deswegen gibt es jetzt eine gute Entwicklung, dass die Chinesen wieder zu Moralwerten zurückkommen. Aber in dieser Zeit, ich habe diese Geschichten bis etwa 2000 angelegt, und da gab es noch sehr viele Spuren, wo man merkte, die Menschen waren sehr brutal zueinander. "

    Im jüngsten Roman hält Luo Lingyuan ihren Landsleuten einen anderen Spiegel vor. Sie schildert eine hochoffizielle chinesische Delegation, die in 19 Tagen Europa sehen und erobern möchte. Die Reise beginnt in Rom, führt über Wien, München, Berlin schließlich bis Paris. Voller Humor und selbstironisch beschreibt die Autorin die verschiedenen Charaktere dieser Gruppe. Ein allmächtiger Chef, vor dem alle anderen kuschen; ein Unternehmer, der den Chef mit Geschenken nur so überhäuft, um ihn gewogen zu machen für neue Aufträge; ein geduckter kleiner Kader, der immer Angst hat, etwas falsch zu machen. Die Reiseleiterin ist eine in Berlin lebende Chinesin, die ihre gute Mühe hat, die Widersprüche, die unmäßigen Erwartungen und das nicht selten arrogante Auftreten ihrer Delegationsmitglieder zu zügeln. Die Autorin hat diese Erfahrungen am eigenen Leib erfahren, sie weiß, wovon sie schreibt:

    " Ich habe jahrelang als Reiseleiterin und Dolmetscherin gearbeitet, habe Gruppen betreut. Dadurch habe ich viele Charaktere kennen gelernt, und ich habe dann in dem Roman versucht, diese beeindruckenden Charaktere, die mir begegnet sind, in einer Sammlung darzustellen. Diese Arbeit hat mir sehr viel beigebracht, hat mir sehr viel gegeben, dass ich geduldiger und freundlicher mit meinen Landsleuten bin. Wenn man die westlichen Werte kennen gelernt hat - hier gibt es klare Grenzen, entweder ist man ehrlich oder man ist heuchlerisch, wenn man heuchlerisch ist, will man das nicht akzeptieren. Aber im Chinesischen ist dieser Grenzwert nicht so klar. Auch wenn jemand heuchlerisch ist, will man den anderen das Gesicht wahren lassen. Es gibt also in dieser Reiseleiterin auch diese Konflikte in sich selber, welche Werte sie annehmen wollte. Ich habe meine Erfahrungen einfließen lassen, welchen Kampf ich mit mir gemacht habe. "

    Luo Lingyuan schaut mit dem doppelten Blick auf ihre Landsleute. Sie beschreibt voller Komik die bizarre Mischung aus Hochmut und Unterwürfigkeit, sie weiß aber auch um die kulturellen Hintergründe und beobachtet sich selbst, wie sich ihr Denken und Handeln durch die westlichen Erfahrungen verändert. Die Mischung aus Fremde und Nähe macht den Reiz dieses Romans aus. Frei von jeder Sentimentalität, frei von jedem Betroffenheitsgestus versteht es Luo Lingyuan, aus ihrer doppelt gewirkten Welt zu erzählen. Zu Recht hat sie in diesem Februar den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis erhalten, der Autoren verliehen wird, die aus einer anderen Kultur und Sprache kommen und sich in die deutsche Literatur hineingeschrieben haben.

    Luo Lingyuan: Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock!
    dtv premium, 219 S.

    Luo Lingyuan: Die chinesische Delegation
    Dtv premium, 258 S.