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Vorhang zu und alle Fragen offen

Medizin. - Seit langem besteht ein Streit um vermehrte Leukämiefälle nahe Kernkraftwerken. Verschiedene Studien wurden unternommen, kamen jedoch nicht zu gemeinsamen Schlussfolgerungen. Eine neue, groß angelegte Studie unter Beteiligung von Befürwortern wie Kritikern sollte für mehr Klarheit sorgen - und wirft jetzt noch mehr Fragen auf.

Von Dagmar Röhrlich | 10.12.2007
    Statistik – das sind trockene Zahlen, hinter denen Schicksale stehen. Bei der neuen Kinderkrebsstudie lesen sich diese Zahlen wie folgt: Zwischen 1980 und 2003 sind im Umkreis von fünf Kilometern um die 16 deutschen Kernkraftwerke 37 Kinder neu an Leukämie erkrankt. Im Durchschnitt wären in diesem Untersuchungszeitraum nur 17 Fälle zu erwarten gewesen.

    "Wir stehen vor einem Fragezeichen. Wir wissen es nicht. Wir haben mit dieser Studie für mich zumindest mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben."

    Maria Blettner, die Direktorin des Instituts für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik am Universitätsklinikum in Mainz, ist ratlos. Denn erklären lässt sich der Befund nicht:

    "Die Strahlenmenge in der Nähe von Kernkraftwerken im Normalbetrieb in Deutschland ist um ein Vielfaches geringer als die so genannte natürliche Strahlendosis, der wir alle natürlicherweise ausgesetzt sind. Das ist der entscheidende Punkt."

    Die zusätzliche Strahlendosis am Zaun eines Kernkraftwerks sei geringer als das, was man bei einer Flugreise abbekäme, beim Röntgen von Zähnen oder selbst bei einer langen Hochgebirgswanderung. Mit dieser Dosis erklären lassen sich die Erkrankungen also nach derzeitigem Wissensstand nicht.

    "Diese Studie ist initiiert worden, weil in einer der vorangehenden Studien im Prinzip schon einmal das beobachtet wurde, dass nämlich die Leukämieraten bei Kindern unter fünf Jahren im 5-Kilometer-Radius erhöht sind. Wir haben damals gesagt, dass war nicht die Hauptfragestellung dieser Studie, das war eine von vielen, vielen Untergruppenanalysen, die wir untersucht haben."

    Also wurde die Studie mit aktualisierten Daten auf diese spezielle Fragestellung zugeschnitten. Aufgrund der Daten des deutschen Kinderkrebsregisters betrachteten die Epidemiologen den Landkreis, in dem das Kernkraftwerk liegt, plus zwei Nachbarkreise. Für alle erkrankten Kinder wurde der Abstand zwischen Wohnort und Kraftwerk genau bestimmt, ebenso für die Nichterkrankten. Das Ergebnis: Je näher die Kinder am Reaktor aufwuchsen, desto höher war ihr Krebsrisiko – und umgekehrt.

    "Wenn unsere Modelle richtig sind, dann haben wir statistisch eine Erhöhung von einem Leukämiefall pro Jahr in Deutschland in der Nähe von Kernkraftwerken. Jeder Fall ist zu viel, ganz klar. Wenn man das auf 16 Standorte aufteilt, dann kann man einfach schon von daher gesehen nicht mehr sagen, bei welchem Kernkraftwerk das gewesen sein muss. Eins geteilt durch 16 gibt einfach Zahlen, die statistisch nicht mehr untersuchbar sind."

    Der Effekt zeigt sich auch, wenn das Kernkraftwerk Krümmel an der Elbe als Spezialfall aus der Statistik herausgenommen wird. Dort ist die Anhäufung von Leukämiefällen bei Kleinkindern seit längerem bekannt. Bei der Ursachenforschung stochern die Wissenschaftler jetzt im Nebel – nicht mehr nur bei Krümmel, sondern bei allen Kernkraftwerken.

    "Leider ist es so, dass wir über die Risikofaktoren von Leukämien und die Risikofaktoren von Leukämien bei Kindern sehr, sehr wenig wissen. Und da stehen wir jetzt vor einem Dilemma, die Ergebnisse zu interpretieren."

    Als mögliche Faktoren kommen in Frage: genetische Einflüsse etwa, Belastungen in der ländlichen Umwelt, große Umspannwerke, Hochspannungsleitungen. So ist nicht untersucht worden, ob ähnliche Effekte auch bei konventionellen Großkraftwerken auftreten.

    "Wichtig ist mir: Keine Panik. Vor allen Dingen die Eltern, die dort wohnen. Leukämie ist eine schreckliche Krankheit, aber bei Kindern glücklicherweise eine seltene Krankheit, ungefähr sechs von 100.000 Kindern erkranken an Leukämie. Das ist ein wichtiger Punkt, der nicht untergehen sollte."

    Als nächstes sollen die Fachleute der Strahlenschutzkommission die Studie prüfen. Daraus könnten sich neue Forschungsansätze ergeben:

    "Vielleicht gibt es irgend jemanden, der da noch weiterhelfen kann, was da die Erklärungen sind, ich bin da im Moment erst einmal am Ende."

    Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik (IMBEI) der Universität Mainz