Freitag, 10. Mai 2024

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Warnungen vor Scheitern der NATO in Afghanistan

Ex-General Klaus Naumann und der Grünen-Politiker Winfried Nachtwei haben vor einem Scheitern des Afghanistan-Einsatzes der NATO gewarnt. "Das würde Unsicherheit für uns alle, das würde Ausbreitung des Terrors bedeuten", sagte Naumann. Nachtwei wies darauf hin, dass eine Stabilisierung des Landes nur mit militärischen Mitteln nicht zu erreichen sei.

Moderation: Jochen Spengler | 29.11.2006
    Jochen Spengler: NATO-Gipfel in Riga. Auf der Bühne sieht man viel Händeschütteln, viele lächelnde Gesichter, aber hinter den Kulissen rumort es. Schon seit der NATO der große Gegenspieler Warschauer Pakt abhanden kam, befindet sie sich in einer Sinnkrise. Doch statt die Sinnfrage zu beantworten, hat sich das Bündnis zum Beispiel in den Afghanistan-Einsatz geflüchtet. Der ist nicht sonderlich erfolgreich, vielleicht auch deswegen, weil sich in der Strategie, so es sie denn gibt, ganz unterschiedliche Ansätze niederzuschlagen scheinen: auf der einen Seite das Konzept von Amerikanern und Briten, die Afghanistan mit militärischer Härte befrieden wollen und es im Süden des Landes auch mit erstarkten Taliban zu tun haben, auf der anderen Seite das Konzept etwa der Deutschen, die sich im relativ friedlichen Norden als Aufbauhelfer mit Militärschutz zu verstehen scheinen. Drückeberger schimpfen die einen; rücksichtslose Haudraufs entgegnen die anderen.

    Wir wollen die Argumente dieser Kontroverse etwas näher beleuchten und haben dazu zwei Gesprächspartner eingeladen: auf der einen Seite den verteidigungspolitischen Sprecher der Grünen, Winfried Nachtwei, auf der anderen Seite den ehemaligen Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses, General a.D. Klaus Naumann. Ihnen beiden zunächst einen guten Morgen.

    Klaus Naumann: Guten Morgen!

    Winfried Nachtwei: Guten Morgen Herr Spengler, guten Morgen Herr Naumann!

    Naumann: Guten Morgen Herr Nachtwei!

    Spengler: Geht das auf Dauer gut, Herr Nachtwei? Die einen sind fürs Kämpfen zuständig, die anderen fürs Aufbauen.

    Nachtwei: Nein. Grundsätzlich geht natürlich eine solche Arbeitsteilung nicht, und so konträr, wie Sie das gerade zum Aufreißen angesprochen haben, ist ja die Grundeinstellung auch nicht und sind eigentlich die Konzepte auch nicht. Nur in der Realität, also am Boden, gibt es diese erhebliche Differenzierung. Wenn man sich die Realität der verschiedenen Operationen in der Vergangenheit anguckt, ISAF auf der einen Seite, eben Stabilisierungs-, Unterstützungstruppe, NATO-geführt seit 2003 einerseits, und Operation Enduring Freedom auf der anderen Seite, da gab es in der Tat diesen Gegensatz. Und es hat sich gegenseitig gebissen. Angesichts der Tatsache, dass jetzt beide Operationen von der Region her, von den Strukturen her dichter einander zurücken, platzt dieser Gegensatz auf.

    Spengler: Haben die Amerikaner, haben die Kanadier Recht, General Naumann, wenn sie beklagen, dass sie sich im Stich gelassen fühlen?

    Naumann: Subjektiv gesehen aus der Sicht der örtlichen Kommandeure und vielleicht des einen oder anderen Politikers ja, de facto nein. Es ist eine einheitliche Operation, auf die man sich verständigt hat, die nach meiner Beobachtung aus drei Phasen besteht: Sicherheit herstellen, Sicherheit stabilisieren und Wiederaufbau leisten. Im Norden funktioniert das in allen drei Phasen bereits, weil dort die Bedingungen für einen solchen Ansatz relativ günstig sind: andere Volksgruppenzusammensetzung, kein Anpacken der Milizen der War Lords. Im Süden, wo die Paschtunen sind - und dort war die Hochburg der Taliban -, funktioniert der Ansatz noch nicht, weil man zunächst einmal den Widerstand beseitigen muss, bevor man Stabilität und Wiederaufbau reinbringen kann.

    Spengler: Herr Naumann, es funktioniert also nicht deswegen nicht, weil die Amerikaner die falsche Strategie hätten, wie es gelegentlich auch bei uns heißt?

    Naumann: Ich habe den Eindruck nicht gehabt. Ich war in einem amerikanisch geführten "provincial reconstruction team" in Kalatz, das ist etwas südostwärts von Kandahar, im Sommer diesen Jahres Und was dort gemacht wurde, war im Grunde genommen sehr ähnlich dem, was die Deutschen im Norden tun. Sie versuchten, in einer relativ ruhigen Zone, in der in einzelnen Gebieten noch gekämpft wurde, aber sofort auch Hilfe reinzubringen und Wiederaufbau zu leisten. Es ist, ich meine, ein zu vereinfachendes Pauschalurteil, wenn man sagt, die Amerikaner und Briten sind die Haudraufs, und die anderen sind die guten Jungs, die Frieden bringen.

    Spengler: Aber wenn die Klage nicht berechtigt ist, wie Sie sagen, warum gibt es dann die Klage?

    Naumann: Weil man versucht, ganz Afghanistan über einen Leisten zu scheren und dabei die unterschiedlichen Bedingungen zu wenig berücksichtigt, ich finde, auch bei uns in der politischen Diskussion zu wenig berücksichtigt. Wenn sie mit Widerstand noch rechnen müssen, und man darf hier dieses ganze vielfältige Bild Afghanistans nicht verwechseln mit dem Gebiet des Nordens. Hier kommt noch der Einfluss der 3,2 Millionen paschtunischen Flüchtlinge im pakistanischen Grenzgebiet hinein, ein Bereich, der viel zu wenig in unserer Diskussion bedacht wird. Dort ist es nicht so einfach, Frieden herzustellen, wie das im Norden ist. Man darf auch nicht vergessen: Die Leute im Norden waren die Opfer der Taliban, und die sind ganz froh, dass die verschwunden sind.

    Spengler: Ja. Nun sind aber die Deutschen im ISAF-Hauptquartier offenbar mehrfach von den Verbündeten im Süden Afghanistans um Hilfe gebeten worden, und zwar vergeblich. Gilt der alte NATO-Grundsatz nicht mehr, dass ein Angriff auf einen Bündnispartner als ein Angriff auf alle betrachtet wird, wie es der amerikanische Präsident fordert?

    Naumann: Wenn dieser Grundsatz aufgegeben würde, dass Risikolasten im Bündnis gemeinsam geteilt werden, dass Solidarität gezeigt wird, dann ist das Bündnis dicht vor dem Ende. Das darf unter keinen Umständen passieren. Ich kann nur sagen, was ich vom Generalinspekteur gelesen habe, es habe keine offizielle Anforderung gegeben. Hier stehen zwei Aussagen gegeneinander. Die muss man aufklären.

    Spengler: Herr Nachtwei, sollte die Bundeswehr auch im Süden eingesetzt werden?

    Nachtwei: Sie wird bisher im Rahmen von Nothilfe, Transporthilfe, medizinische Evakuierung, zurzeit auch 21 Fernmeldesoldaten dort begrenzt und befristet eingesetzt. Mit Kampftruppen, meine ich, eindeutig nein.

    Spengler: Auch nicht dann, wenn eine Hilfeanforderung kommt?

    Nachtwei: Nein, auch dann nicht und zwar unmittelbar aus dem Grund, unmittelbar, weil schon die Kräfte im Norden, die ja in der Tat keine einfache Situation haben, sondern, ich würde genauer sagen, eine anders schwierige Situation und insgesamt natürlich vom Risiko-Niveau her nicht so wie im Süden, weil man dort keine Kampftruppe entbehren kann. Wenn man sich das anguckt in der Provinz Badakschan, also im äußersten Nordosten, wilde Gegend und so weiter und so fort, hier ist mal gerade eine Kompanie an Kampftruppe. Da kann man keine abziehen. Die afghanische Nationalarmee ist dort auch nicht stationiert. Also insofern hat man keine Kräfte schlichtweg zum Verlegen. Und dann die andere Frage ist natürlich: Sollte man dann mit dem Mandat des Bundestages - das ist ja hier der rechtlich verbindliche Rahmen –, soll man da höher gehen. Da ist schlichtweg der Tatbestand, dass die Bereitschaft in allen Fraktionen dazu nicht gegeben ist. Das sind reale Hindernisse.

    Spengler: Hindernisse, die störend wirken, Herr Naumann?

    Naumann: Ja. Hindernisse, die störend wirken und denen ich auch in dieser Form nicht zustimmen könnte. Ich meine das Mandat des Deutschen Bundestages lässt ausdrücklich zu, dass in Notfällen Hilfe geleistet wird auch im Süden. Und es soll mir keiner erzählen, dass es nicht möglich ist, aus einem Kontingent von über 2000 Soldaten, die die Deutschen in Afghanistan haben, eine Kompanie Kampftruppen beispielsweise abzuziehen, zeitlich begrenzt, örtlich begrenzt und im Umfang begrenzt für einen zeitlich begrenzten Kampfauftrag im Süden. Wenn wir uns dem verweigern, dann, meine ich, legen wir wirklich die Axt an die Wurzel des Bündnisses, und ich kann mir nicht vorstellen, dass das der Wille der Bundesregierung ist. Hier muss man drüber nachdenken. Zu sagen, deutsche Soldaten kämpfen nicht, ist in meinen Augen eine Aussage, die man schlicht nicht durchhalten kann.

    Spengler: Herr Nachtwei, Sie gehören nicht zur Bundesregierung. Führen Sie deswegen leichter die Axt?

    Nachtwei: Nein, das keineswegs, weil wir uns gemeinsam mit der Bundesregierung sehr wohl in hoher Verantwortung, in Mitverantwortung fühlen dafür und auch sehen dafür, dass der äußerst schwierige Stabilisierungs- und Friedensprozess in Afghanistan über diesen äußerst schwierigen Berg kommt. Also insofern da keine Leichtfertigkeit oder leichte Opposition, aber Herr Naumann, man muss eines bedenken: Es gibt einerseits - das ist völlig richtig - das Gebot der Risiko- und Lastenverteilung im Bündnis. Auf der anderen Seite haben wir es auch bekanntlich hier nicht mit einem Verteidigungsfall, wo eine ganz andere Form der Beistandsverpflichtung notwendig wäre, zu tun, sondern immer noch mit einem Kriseneinsatz, und bei einem Kriseneinsatz ist auch der Aspekt der Freiwilligkeit dabei. Da gibt es eben Nuancierungen, und unsere Feststellung ist keineswegs oder unser Auftrag auch vom Bundestag, die Bundeswehrsoldaten sollen nicht kämpfen. Auch im Norden - und Sie waren ja selbst wahrscheinlich auch im Norden - kommen Situationen zu Stande, wo Soldaten kämpfen müssen. Es gibt immer wieder auch solche Überfälle. Insofern ist diese krasse Gegenüberstellung von "die einen kämpfen", "die anderen bauen nur auf" falsch. Dieses stimmt so nicht. Aber bei einer Abordnung in den Süden müssen wir zugleich auch noch fragen als Politiker - Militärs müssen sich das genauso fragen und tun es ja auch -, wofür werden dort mehr Soldaten gebraucht? Der Notfall und der Extremfall, wo dann ein Teilrückzug gemacht werden müsste und da müssten Kräfte evakuiert werden, das ermöglicht auch das Mandat des Bundestages.

    Spengler: Wir müssen allmählich zum Ende kommen. Meine Herren, ich möchte gerne eine Frage an beide stellen zum Schluss. Wenn das Bündnis in Afghanistan scheitern sollte, was würde das für die Region bedeuten?

    Nachtwei: Es darf nicht scheitern. Andererseits darf man Afghanistan auch nicht zur Existenzfrage der NATO hochstilisieren. Aber es darf nicht scheitern, weil das bedeuten würde einen strategischen Rückschlag beim Kampf gegen internationalen Terrorismus. Deshalb sind die anderen Fragen auch enorm wichtig. Da sind wir uns, glaube ich, einig, Herr Naumann, dass wir es nicht alles nur auf das Militärische verkürzen dürfen, sondern dass die anderen Maßnahmen viel, viel mehr in den Blick kommen müssen.

    Spengler: Herr Naumann, Sie haben das letzte Wort.

    Naumann: Ich bin mir mit Herrn Nachtwei völlig einig, dass man Afghanistan nicht mit militärischen Mitteln alleine gewinnen kann. Ich sage das seit 1992 übrigens. Aber ich bin eben mit ihm auch einig, dass wir in Afghanistan unter keinen Umständen scheitern dürfen. Damit würde der Abschreckungswert des Bündnisses und das letzte funktionierende Sicherheitsinstrument, das es noch gibt auf dieser Welt, schwer angeschlagen werden. Das würde Unsicherheit für uns alle, das würde Ausbreitung des Terrors bedeuten. Deswegen darf man auch nicht - Herr Nachtwei da würde ich Sie wirklich herzlich bitten, noch mal darüber nachzudenken - so vorgehen, dass man sagt, wir versuchen vom Norden aus die Stabilität auf den Süden zu übertragen. Man muss Afghanistan als eine gemeinsame Operation des Bündnisses sehen, und ich darf daran erinnern, dass wir eine gemeinsame Strategie dort beschlossen haben.

    Spengler: Dankeschön Herr Naumann. – Ich danke Ihnen, dem ehemaligen General a.D. Klaus Naumann, und dem Verteidigungssprecher der Grünen, Winfried Nachtwei.