Freitag, 19. April 2024

Archiv


Wenn Sinne verschwimmen

Medizin. In Deutschland leben schätzungsweise rund 150.000 Menschen, bei denen sich die Sinne vermischen: Buchstaben werden farbig, oder sie lösen einen Geschmack auf der Zunge aus. Bei anderen wiederum erzeugt "Mittwoch" einen anderen Geruch als "Donnerstag". Forscher sprechen von Synästhesie. Das Phänomen war Thema einer Konferenz in Hannover.

Von Michael Engel | 04.12.2006
    Matthias Waldeck zählt zu den so genannten Musik-Synästhetikern. Bei ihm erzeugen bestimmte Töne immer dieselben Formen vor seinem geistigen Auge

    "Ein Klavierton ist eine nach oben offene rote Halbkugel, Vibrafonton ist eine rote Halbkugel, und das setzt sich jetzt innerhalb des Musikstückes jeweils mit den Instrumenten zusammen, die ich höre."

    Warum löst ein musikalischer Reiz zeitgleich auch eine optische Sinneswahrnehmung aus, die von der Mehrzahl der Menschen so nicht gesehen wird? Gründe dafür sind nach Meinung von Experten in der Struktur des Gehirns zu suchen. Doktor Danko Nikolic vom Max-Planck-Insitut für Hirnforschung:

    "Wir sind sicher, dass, wenn wir eines Tages, wenn wir Synästhesie verstehen, wissen, wie Synästhesie kommt, warum Synästhetiker diese besondere Wahrnehmung haben, die andere Leute nicht haben, dann werden wir auch etwas sehr wichtiges über das Hirn gelernt haben."

    Magnetresonanztomographische Aufnahmen zeigen bei den Betroffenen deutlich vergrößerte Aktivierungszonen im Bereich der Großhirnrinde. Vermutlich, so der Hirnforscher, gibt es zwischen den Reiz verarbeitenden Hirnarealen eine Art Brücke, die verschiedene Sinnesreize miteinander verkoppelt - zum Beispiel akustische und optische. Therapeutisch wertvoll könnte Synästhesieforschung für Schlaganfallpatienten sein, wenn es gelänge, geschädigte Hirnregionen gewissermaßen synästhetisch zu überbrücken. Doch nicht nur Neurologen beschäftigen sich mit dem Phänomen. Professor Hinderk Emrich, Präsident des Kongresses, ist Psychiater an der Medizinischen Hochschule Hannover.
    "Wenn wir uns so miteinander verständigen, dann denken wir immer, jeder Begriff bedeutet für jeden Menschen dasselbe. Aber bei diesen so genannten Qualia - also bei den Qualitäten der Wahrnehmung oder des Denkens und Fühlens - ist es eben nicht so, dass mein Rot dein Rot, und mein Blau dein Blau ist, sondern die sind eben alle verschieden. Aber durch die Begriffe und das gemeinsame Auf-Etwas-Zeigen haben wir alle das Gefühl, wir reden vom selben."

    Emrich konzipierte den Begriff der Gefühlssynästhesie, soll heißen, dass zum Beispiel Worte immer auch Emotionen auslösen, die wiederum unsere Deutung verändern. Anders als die genuine, die ursprüngliche Synästhesie, die nur wenige Menschen betrifft, ist Gefühlssynästhesie eine allgemeine Erfahrung. Wie das am Beispiel von Musik funktioniert, untersuchte Frederik Nagel von der Hochschule für Musik und Theater Hannover. In seinem Experiment hörten Versuchspersonen verschiedene Musiktitel, wobei die Gefühle indirekt in Form von Herzrate, Schweiß auf Haut und Gänsehaut gemessen wurden.

    "Also in den meisten Fällen, in denen wir eine Gänsehaut beobachteten, sah man einen Anstieg in der Herzrate und im Hautleitwert, die beide ihre maximale Erhöhung aber interessanter Weise erst erreichten, nachdem die Gänsehaut angezeigt war."

    Warum zuerst die Gänsehaut kommt und dann das Herzrasen, das können die Wissenschaftler nicht sagen, wohl aber, dass Frauen doppelt so häufig mit einer Gänsehaut reagieren wie Männer. Alle Reaktionen sind jedoch stark von der jeweiligen Stimmung abhängig. Wird die Musik häufig wiederholt, stellen sich am Ende überhaupt keine Effekte mehr ein. Insofern unterscheiden wir uns - die Gefühlssynästhetiker - von den echten, den genuinen Synästhetikern. Denn bei ihnen gibt es keine Gewöhnungseffekte. Lieselotte Wefer sieht gedruckte Worte immer farbig: "Elefant" zum Beispiel ist erdbeerrot.
    "Also ich fühle mich damit sehr wohl. Wenn es eines Tages weg wäre, dann würde mir bestimmt etwas fehlen, es wäre irgendwie unvollständig."