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Wenn wohnen krank macht

Vor 50 Jahren war bleihaltige Farbe im Wohungsbau Standard. An die Gesundheitsgefahren dachte damals niemand. Belastete Wohnungen müssten heute dringend saniert werden, und Kinder dürften sich auf keinen Fall dort aufhalten. Doch in Paris leben immer noch Tausende in bleiverseuchten Wohnungen. Bettina Kaps berichtet.

26.09.2008
    Véronique Chopin zieht einen Stadtplan aus der Umhängetasche und studiert das Viertel, das sie heute absuchen will. Ihre Kollegin Sofia Aouici markiert einzelne Straßenzüge mit einem Filzer.

    " Wir fangen mit der Brandenburger Straße an. Das ist eine Gegend mit vielen alten Häusern, danach nehmen wir die Kolonel-Fabien-Straße. "

    Beide Frauen sind Anfang 30 und von Beruf Krankenschwester. An ihrem freien Nachmittag ziehen sie für die französische Hilfsorganisation "Ärzte der Welt" durch die Vorstädte von Paris und suchen nach Häusern, die mit Blei verseucht sein könnten. Derzeit sind sie im Südosten der Hauptstadt unterwegs, in Ivry-sur-Seine.

    Sofia zeigt auf ein zweistöckiges Haus: Die Fenster haben verschnörkelte Brüstungen, die Giebelwand ist aus Naturstein - beides, sagt sie, sind Indizien dafür, dass das Haus vor 1948 gebaut wurde, also zu einer Zeit, in der bleihaltige Farbe Standard war.

    " Das da zum Beispiel ist ein typisches Beispiel für ein Haus, das verseucht sein könnte. Das Regenrohr wurde notdürftig mit einem Holzbalken verstärkt und mit einer Plastikplane umwickelt. Das Rohr ist bestimmt undicht und ich nehme an, dass das Regenwasser in die Wohnungen eindringt. Das sollten wir uns genauer ansehen. "

    Eine schwache Glühbirne erhellt den Flur: Einzelne Briefkästen sind beschädigt, Mülleimer versperren den Weg, die beige Wandfarbe blättert in großen Schuppen ab und rieselt auch auf den Kinderwagen, der im Flur abgestellt ist. Sofia notiert, was zu tun ist:

    " Wir müssen wieder kommen und die einzelnen Familien gezielt über die Gefahr informieren. Außerdem müssen wir uns mit der Stadtverwaltung in Verbindung setzen und beim Sozialamt nachfragen, ob schon eine Bleidiagnose vorgenommen wurde. "
    Wenn potentiell verseuchte Häuser gefunden werden, übernimmt Anna Le-Oc-Mach die weitere Arbeit. Die Kinderärztin ist eine kleine Frau mit kurzen grauen Haaren und einem freundlichen runden Gesicht. Seit sie in Rente ist, zieht sie treppauf, treppab durch die alten Häuser und klopft an alle Wohnungstüren, um Eltern über die Vergiftungsgefahr zu informieren.

    Ein Asiate in traditionellem Wickeltuch öffnet, hinter seinem Rücken ist ein voll gestelltes Zimmer mit Kochecke und Schlafsofa zu sehen, zwei Kinder spielen auf dem Boden. Anna erklärt, dass der Farbstaub Kinder unter sechs Jahren schwer krank machen kann. Das Blei heftet sich an die roten Blutkörperchen, anschließend legt es sich in den Knochen nieder, in Gehirn, Leber und Nieren.

    " Man sieht es einem Kind nicht an, wenn es sich vergiftet hat. Die Symptome sind vielfältig: Bauchweh, Verstopfung, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Anämie. Am Schlimmsten ist, dass das Zentrale Nervensystem angegriffen werden kann. Nur eine Blutprobe schafft Gewissheit. "

    Anna drückt dem Mann eine Broschüre mit Informationen in die Hand und versichert, dass sie wieder vorbeischauen und nachfragen wird, ob die Kinder dann untersucht und welche Werte ermittelt wurden.

    Wenn ein Kind 100 Milligramm Blei im Blut hat, muss der Arzt das Sozialamt benachrichtigen. Dann wird die Wohnung kontrolliert. Stellt sich heraus, dass die Wandfarbe bleihaltig ist, muss der Besitzer die Familie umquartieren und die Wohnung innerhalb von zwei Monaten sanieren. Weigert er sich, dann kann der Staat die Arbeiten veranlassen. Gesetzlich ist somit dafür gesorgt, dass die Gefahr beseitigt wird. Aber die Realität sieht anders aus, sagt Anna Le-Oc-Mach.

    " Wir sind auf eine Familie getroffen, deren Kind sich vergiftet hatte. Aber die Behörden hatten sie wieder vergessen. Inzwischen war ein zweites Kind geboren, das ebenfalls erhöhte Bleiwerte aufwies. Wir haben erreicht, dass die Familie sehr schnell umquartiert wurde. Das war ein Erfolg. Aber zugleich macht es mich bitter: Was wäre geschehen, wenn wir nicht auf sie gestoßen wären? Und was geschieht mit all den anderen, die wir nicht kennen? "

    Die Ärztin schaut auf ihre Adressenliste: noch drei potentiell verseuchte Häuser gibt es allein in dieser Straße. Es ein Skandal, sagt sie, dass es im 21. Jahrhundert noch Saturnismus gibt.

    " Der Grund: Es werden zu wenig neue Wohnungen gebaut, der Staat hält seine Versprechungen nicht ein. Es ist ein politisches Problem! "