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Wer zahlt bestimmt

In Berlin diskutierten Wissenschaftler auf verschiedenen Symposien die Schuldenkrise im Kontext der Demokratie. Ein Ergebnis war, dass Europa in der Krise seine demokratische Identität verspiele und die europäische Solidarität bröckele. Außerdem vermissten einige Wissenschaftler eine europäische Vision bei den Politikern.

Von Frank Hessenland | 27.03.2012
    "Seit die 2008 ausgebrochene Finanzkrise mit voller Wucht auch auf Europa übergriff, befinden sich Kapitalismus und Europa in einer tiefen, miteinander verschränkten Krise."

    Im Ergebnis ihrer Analyse zum aktuellen Zustand der Demokratie in Europa stimmten wohl die allermeisten Politikwissenschaftler, Soziologen, Historiker und Philosophen der zwei Konferenzen mit dem Verfassungsrechtler Michael Schäfer überein, der in der sonnigen Atmosphäre des Schlosses Neuhardenberg bei Berlin konstatierte: Europa verspiele gerade seine demokratische Identität.

    "Die europäische Solidarität bröckelt, gegenseitige Schuldzuweisungen werden lauter. Die dadurch entstandene Vertrauenskrise, die die Europäische Union in ihrem Kern bedroht, stellt sich vor allem in Hinblick auf das eigene Selbstverständnis ein vorbildhafter Kontinent für das überstaatliche Projekt der Demokratie zu sein."

    In den voll besetzten Räumen der renommierten sich englischsprachig gebenden Hertie School of Governance in Berlin hatte wenige Stunden zuvor Wolfgang Streek vom Max Planck Institut und der Universität Köln klargemacht, warum die Situation der europäischen Demokratien so prekär erscheint: Der Wähler als Souverän habe durch die Schuldenkrise den Investor als zweiten Machthaber zur Seite gestellt bekommen, sagte Streek.

    "Der Schuldenstaat, der den Platz des steuerfinanzierten Staates eingenommen hat, hat zwei Souveräne. Seine Bürger – und seine Gläubiger. Beide konkurrieren miteinander um Aufmerksamkeit und Kontrolle der Regierenden. Beide unterscheiden sich in Zielen und Eigenschaften: Investoren sind international und viel weniger loyal zum Staat als Bürger. Ihre Eigentumsrechte konkurrieren mit den Bürgerrechten auf Bildung, öffentliche Dienste und demokratische Macht."

    Die Politik, die gezwungenermaßen beiden – Investoren und Bürgern - dienen müsse, sitzt nun angesichts der konkurrierenden Forderungen von Wahlvolk und internationalen Geldgebern in der Zwickmühle, meinte auch der Soziologe Jürgen Habermas. Es bleibe ihr nur übrig, zu taktieren, die Alternativlosigkeit der Politik hervorzuheben und zu hoffen:

    "Keine Politik funktioniert in dem Zusammenhang: Die Steuern zu erhöhen, würde die Investoren abschrecken, und die Ausgaben zu kürzen, geht auf Kosten der sozialen Sicherheit, der öffentlichen Dienste, der Bildung und so weiter."

    Die Tendenz dieser demokratietheoretisch wie gesellschaftlich besorgniserregenden Entwicklung geht in Richtung einer autoritären Scheindemokratie, wie Jaques Rupnik vom Pariser Institut für politische Studien in der Hertie School für Europa prophezeite:

    "Ganz Europa leidet unter einem demokratischen Defizit und einer demokratischen Ernüchterung. Das kommt daher, dass unser Finanzsystem global organisiert ist, während die demokratischen Mechanismen national sind. Wir wählen also zwischen Politikern, die keine Macht haben. Die wirkliche Macht ist ganz woanders. Wenn man sich Griechenland, Italien und andere Länder ansieht, wo gewählte Regierungen einfach ausgetauscht werden gegen Technokratenregime, dann sieht man, worauf die Entwicklung rausläuft. Weltweit ist der autoritär organisierte Kapitalismus wie in Russland und China auf dem Vormarsch."

    Demokratie braucht Kapitalismus, aber braucht der Kapitalismus notwendig die Demokratie? Eigentlich nicht, hieß es auf beiden Veranstaltungen immer wieder. Die Demokratie, wenn sie nicht weiter ausgehöhlt werden soll, müsse durch den Bürger konkret eingefordert werden. Um das Demokratiedefizit in Europa auch in Zeiten der Investorenabhängigkeit zu lindern, beschrieb Verfassungsrechtler Michael Schäfer, ginge es derzeit um ganz konkrete Verbesserungen:

    "Stärkung des europäischen Parlamentes, Errichtung von europäischen Parteien, europäische Referenden, die dann gleichzeitig in allen Ländern abgehalten werden zu einem konkreten Thema. Da müsste man sich schon überlegen, ob man nicht häufiger zum Instrument des Referendums greift, um kurzfristige Entscheidungen legitimieren zu können. Was Besseres fällt mir zurzeit nicht ein."

    Ob die Zeit allerdings ausreicht, Europa zu einen, bevor es durch seine Schuldenprobleme wieder in Einzelstaaten auseinandergetrieben wird, erscheint auch für Michael Schäfer zweifelhaft. Eine explizite europäische Vision, wie sie noch nach 1989 überall zu spüren war, vermissten die Wissenschaftler bei der Politik.