Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Wir wollen Spekulationen teurer machen"

Der Bundesvorsitzende der Sozialdemokraten, Sigmar Gabriel, hat eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik der Euro-Staaten gefordert. Diese sei nötig, um eine Wiederholung der Finanzkrise zu verhindern, so Gabriel.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Frank Capellan | 23.05.2010
    Frank Capellan: Sigmar Gabriel, der Bundestag hat am vergangenen Freitag wieder mal ein gigantisches Rettungspaket verabschiedet – zur Rettung des Euro. Die Koalition hat gesagt, es geht um Europa, es geht darum, ob Europa steht oder fällt – so zum Beispiel Guido Westerwelle, der Vizekanzler, in seiner Rede. Ist es wirklich so dramatisch?

    Sigmar Gabriel: Das Rettungspaket ist, wie man in der Mathematik sagen würde, eine notwendige Bedingung, um den Euro, und damit sicher auch die europäische Stabilität zu sichern, aber natürlich auch keine hinreichende. Merkel und Westerwelle tun so, als ob die reine Kreditvergabe oder die Bürgschaften für Länder, die in große Schwierigkeiten gekommen sind, als ob das ausreichen würde, Europa auf den richtigen Pfad zu bringen. In Wahrheit versuchen wir, jetzt nur Zeit zu gewinnen. Das ist notwendig, weil wir sehr schnell viele andere Maßnahmen nicht werden umsetzen können. Aber die versuchen, den Menschen etwas vorzumachen. Es geht wirklich darum, dass wir in Europa einen anderen Kurs einschlagen müssen. Europa darf nicht länger nur ein Binnenmarkt sein, wo die Interessen von wirtschaftlichen Einzelinteressen, von Lobbyisten, in diesem Fall natürlich auch von Spekulanten und Zockern an der Börse eine Rolle spielen, sondern wir müssen auch wieder dafür sorgen, dass das Gemeinwohl in Europa, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt stehen.

    Capellan: Haben Sie sich denn doch ein wenig unwohl gefühlt dabei, sich nun der Stimme zu enthalten? Denn Sie haben es gerade gesagt: Es ist schon ein Paket, wo Sie der Überzeugung sind, dass man es braucht, dass man was tun muss zur Stützung des Euro. Die FDP hat Ihnen vorgeworfen, Sie würden sich Ihrer staatspolitischen Verantwortung entziehen, weil Sie nicht mitmachen.

    Gabriel: Also ich glaube, es gibt hoffentlich keinen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, der sich wohlgefühlt hat bei seiner Stimmabgabe. Denn die Geschwindigkeit, mit der das durchgepaukt wurde – übrigens andere Länder lassen sich mehr Zeit zur Beratung –, das ist schon ein Problem. Trotzdem: Der Vorwurf von Herrn Westerwelle – ich kann das verstehen, was soll da sagen, um das zu begründen – der ist natürlich deshalb unsinnig, weil: Man dann nicht dann Verantwortung, wenn man einfach Geld gibt, sondern der Verantwortung wird man gerecht, wenn man sagt, was müssen wir nun tun, um erstens eine Wiederholung der Krise oder eine Fortsetzung der Krise zu verhindern – dazu hat die Bundesregierung überhaupt keine Idee. Die richtige Antwort lautet: Gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik in Europa. Und zweitens: Wie können wir eigentlich dafür sorgen, dass diejenigen die Kosten bezahlen, die an der Krise Milliarden verdient haben – die Spekulanten und Zocker. Und da …

    Capellan: … aber da ist Ihnen doch die FDP entgegen gekommen …

    Gabriel: … wo denn? …

    Capellan: … sie hat doch sich mittlerweile, und die Koalition im Koalitionsausschuss drauf verständigt in der vergangenen Woche, dass man eine Finanzmarktsteuer haben möchte.

    Gabriel: Also erstens geht’s nicht drum, dass man eine haben möchte, sondern es schon geht darum: Welche. Dazu können wir ja vielleicht gleich noch kommen. Aber ich habe ja im Bundestag gesagt: Wenn es eine Verabredung der Koalition aus CDU/CSU und FDP gibt, eine Finanzmarktbesteuerung zu machen, warum beschließen sie die dann nicht im Bundestag? Wir haben ja als SPD fast wörtlich das im Bundestag beantragt, was die Kanzlerin und was Herr Schäuble in ihren Erklärungen öffentlich gesagt haben. Und wenn CDU/CSU und FDP im Bundestag nicht zustimmen, nicht beschließen wollen, was ihre Regierungsmitglieder öffentlich vertreten, na, dann wird man als Opposition ja doch ein bisschen misstrauisch sein dürfen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich glaube, das Einzige, was die gemacht haben, ist ein Formelkompromiss zwischen CDU/CSU auf der einen Seite und FDP auf der anderen, aber keinen wirklichen Willen, das durchzusetzen.

    Capellan: Aber wenn sich die SPD auf eine Aktivitätssteuer eingelassen hätte, dann hätte man doch eine Einigung erzielen können: Aktivitätssteuer, also eine Besteuerung von Gewinnen und Boni. Was Sie wollen, ist eine Besteuerung von Finanzbewegungen, also die Transaktionssteuer. Warum geht es nicht mit dem Modell, das die FDP vorschlägt?

    Gabriel: Das ist für den Außenstehenden ja schwer zu verstehen, das hört sich irgendwo ja alles gleich an. Aber im Kern geht es wirklich um etwas sehr Unterschiedliches. Wir sagen: Lasst uns das besteuern, was an diesen Spekulationen an Börsen und im Handel passiert. Wenn das dann teurer wird, ist das gar nicht schlimm, warum soll man die Spekulanten billig spekulieren lassen. Bis zu 30 Milliarden Euro kann Deutschland dadurch pro Jahr einnehmen. Die FDP sagt: Lasst uns die Gewinne der Banken besteuern! Da muss ich mal offen sagen: Erstens, warum sollen eigentlich Volksbanken und Sparkassen da dabei sein? Wieso? Die haben die Krise nicht zu verantworten. Und zweitens: Was wird denn passieren, wenn wir die Gewinne der Banken besteuern? Die werden das umlegen auf die Zinsen für ihre Bankkunden, auf die Mittelständler. Für die werden die Kredite noch teurer.

    Capellan: Ja, wird das nicht mit der Transaktionssteuer genau so geschehen?

    Gabriel: Nein, weil wir ja nicht die Banken besteuern, sondern nur die Spekulationsgeschäfte und den Handel, der so zusagen an Börsen und außerbörslich stattfindet. Das ist was völlig anderes, als den Banken ihr normales Geschäft teurer zu machen, denn das wird dann am Ende jeder Bankkunde, vor allen Dingen die mittelständischen Unternehmer bezahlen, die heute schon kaum Kredite bekommen.

    Capellan: Aber die FDP sagt natürlich, eine Transaktionssteuer würde auch den kleinen Sparer treffen. Das sehen Sie nicht so?

    Gabriel: Nein, das ist ja Unsinn. Ich darf noch mal darauf hinweisen: Nicht nur die SPD ist gegen den FDP-Vorschlag, auch die CDU/CSU ist es ja. Frau Merkel hat ja deshalb immer vorsichtig gesagt, das eine oder das andere. Man merkt doch sofort, dass es hier nur um Formelkompromisse ging. Und wenn …

    Capellan: … Horst Seehofer ist Ihr neuer Partner …

    Gabriel: … ich habe erst mal gar nichts gegen Horst Seehofer, wenn er das Richtige sagt. Aber ich würde gern jemand anders anführen, nämlich Jean-Claude Juncker. Jean-Claude Juncker ist nicht nur luxemburgischer Ministerpräsident und Konservativer, sondern er ist vor allen Dingen der Chef der Euro-Finanzminister, der Finanzminister der Euro-Gruppe. Und der sagt genau das gleiche wie wir. Er sagt: Aktivitätssteuer falsch, die Finanztransaktionssteuer richtig. Erstens bringt sie viel mehr, dieser FDP-Vorschlag bringt auch sehr wenig. Und zweitens sagt er: Lasst uns das notfalls in der Eurogruppe alleine machen und nicht, wie die FDP sagt: Wir machen es nur weltweit.

    Capellan: Da möchte ich Sie gleich nach fragen, aber ich möchte da gerne den IWF anführen. Der sagt: Transaktionssteuer ist nicht treffsicher.

    Gabriel: Wir wollen alle Spekulationen teurer machen, und wer das nicht mitmachen will, weil es ihm zu teuer ist, um so besser. Vor allen Dingen brauchen wir übrigens parallel dazu auch eine Reihe von Verboten. Bestimmte gemeingefährliche Produkte darf man nämlich gar nicht handeln. Aber ich muss Ihnen natürlich eines sagen: Wenn Sie in den letzten Monaten hingehört haben, dann haben die, die die Krise mit verursacht haben, jeden Tag ein neues Argument, warum man sie nicht besteuern soll. Ich bin da relativ offen und sage: Diese Nieten in Nadelstreifen, von denen möchte ich mir nicht weiter vorschreiben lassen, was wir zu tun haben. Sie müssen auch den Bürgerinnen und Bürgern mal zeigen, dass wir bereit sind, die zur Kasse zu bitten, die das Ganze verursacht haben. Ich meine, die Leute da draußen werden doch verrückt, wenn wir ihnen immer wieder sagen: Bitte schön, jetzt als Nächstes dürft Ihr wieder das Ganze bezahlen.

    Capellan: Die Kanzlerin hat am Wochenende gesagt, eine internationale Lösung zur Einführung einer Finanzsteuer, wie auch immer sie auch aussehen wird, sei möglich. Es gibt Ende Juni den G-20-Gipfel in Kanada. Glauben Sie daran, dass man sich global auf eine Besteuerung der Finanzmärkte wird einigen können?

    Gabriel: Ich glaube es nicht, aber man muss es versuchen. Ich glaube, dass es immer irgendeinen geben wird, der versucht, für sich selber eine bessere Situation rauszuschlagen, indem er bei so etwas nicht mitmacht …

    Capellan: … wenn das nicht klappt, dann Europa? …

    Gabriel: … Europa, das wird auch wegen der Briten schwierig werden, gerade nach der letzten Wahl.

    Capellan: Was ist los mit den Briten, mit David Cameron, der jetzt bei seinem Antrittsbesuch gerade am Freitag in Berlin gesagt hat: Hedgefonds stärker an die Kandare nehmen – nicht mit uns, Finanztransaktionssteuer auch nicht mit uns. Also, was bringt das, wenn die Briten nicht mitmachen und alles über die Londoner Börse dann laufen würde?

    Gabriel: Erstens wird nicht alles über die Londoner Börse gehen, sondern der Euro-Raum ist wirtschaftlich viel zu interessant, als dass man ihn vernachlässigen könnte. Zweitens haben die Briten – nun muss man sehen, wie es unter den Konservativen da weiter geht – die Briten haben ja sogar eine nationale Abgabe in der Art, wie wir sie uns europaweit vorstellen. Aber eines ist richtig: Die Briten haben ihre Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten – ich würde sagen ruiniert, sie würden sagen "umgebaut". Sie haben ja in Wahrheit keine eigene Industrie mehr und haben alles auf den Finanzplatz London gesetzt. Und nun soll dieser Finanzplatz London geschützt werden, damit so zusagen dort auch die Einnahmen erzielt werden können, die Großbritannien braucht. Wir sagen, das wird am Ende nicht funktionieren – es gibt übrigens immer noch richtige Steueroasen in den Kanalinseln der Briten – und wenn Ihr da nicht mit macht, dann können wir nicht immer auf den Langsamsten warten. Wissen Sie, ich war mal Umweltminister. Wenn wir in der Umweltpolitik immer auf die gehört hätten, die sagen, das geht nicht, das geht nur europaweit, das geht europaweit nicht, wir müssen das weltweit machen: Wir würden heute noch alle Chemikalien in den Rhein kippen.

    Capellan: Sie werfen der Kanzlerin ja häufig vor, tatenlos zu sein, auch in dieser Krise, und zu zögerlich zu agieren. Nun hat sie in der vergangenen Woche die Leerverkäufe gestoppt. Da hat sie doch gehandelt. Ich möchte das kurz noch einmal erklären: Eine Bank verkauft Staatsanleihen, zum Beispiel eben auch griechische Staatsanleihen, die sie noch gar nicht besitzt, in der Hoffnung, in ein paar Tagen dann möglicherweise diese Staatsanleihen noch viel billiger zu bekommen und damit kräftig Gewinne abzukassieren. Es ist doch sicherlich auch in Ihrem Sinne, so etwas zu unterbinden?

    Gabriel: Deswegen haben wir es ja auch in unserer Regierungszeit mit Peer Steinbrück als Finanzminister ja auch verboten. Aber Frau Merkel und ihre Regierung haben dieses Verbot auslaufen lassen und haben es jetzt erst mal wieder sechs Monate erlaubt. Warum, das bleibt das Geheimnis von Frau Merkel.

    Capellan: Waren sie denn eigentlich überrascht von der Reaktion der Märkte auf dieses Verbot? Denn es hat ja nicht zur Beruhigung beigetragen, das Verbot der Leerverkäufe.

    Gabriel: Nein, es hat mich deshalb nicht überrascht, weil natürlich die Märkte auch beobachten, welchen Schlingerkurs Deutschland da fährt. Mal ist es verboten, dann wird es wieder erlaubt, dann wird es wieder verboten. Das ist natürlich etwas, was für die Märkte eine unmögliche Lage ist. Sie müssen schon auch zeigen, welche langfristigen Regeln Sie durchhalten wollen. Die Finanzwirtschaft war mal dafür da, der Realwirtschaft, den Unternehmen, den Mittelständlern, denen Geld zu leihen, damit sie investieren können. Und heute hat sie sich so verselbständigt. Ich meine, was ist das innovativste Produkt der Finanzwirtschaft unter Herrn Ackermann? Das ist der Geldautomat, mehr haben die nicht zustande gebracht.

    Capellan: Sie schießen sich jetzt immer wieder ein auf die Spekulanten. Nun sagen viele Leute, die Spekulanten können ihr Unwesen überhaupt erst treiben, weil die Politik die Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Also müsste man sich nicht konzentrieren auf das Kernproblem, die Haushalte? Da waren doch viele Brandstifter, auch Politiker, die gefälschte Haushaltszahlen etwa in Sachen Griechenland haben durchgehen lassen.

    Gabriel: Keine Frage. Natürlich kann das nicht wahr sein, dass wir uns sozusagen gefallen lassen, dass jemand gefälschte Zahlen abliefert. Meine Frage geht sogar noch weiter. Ich behaupte, die Europäische Kommission wusste ganz genau, was da los ist. Ich fände, es wäre mal angemessen, einen Untersuchungsausschuss zu machen, warum eigentlich die, die nach den Verträgen zuständig dafür sind, dass sie die Einhaltung der europäischen Verträge überwachen, warum die eigentlich nichts gemacht haben. Der jetzige Ministerpräsident in Griechenland hat übrigens der Kommission, als er noch Oppositionsführer war, gesagt: ‚Leute, Achtung, bei uns wird gelogen. Geht dem mal nach.’ Warum haben die es eigentlich nicht gemacht? Sie haben sich diesen besseren Wohlstand auf Pump erkauft.

    Capellan: Ja, ist das Problem dann auch, wenn es auf Pump geht und die Verschuldung in den EU-Staaten exorbitant anwächst, ist das Problem der aufgeweichte Stabilitätspakt?

    Gabriel: Nein, der Stabilitätspakt ist ja nur, genau wie die deutschen Gesetzte, so verändert worden, dass man sagt, wir wollen verhindern, dass in Zeiten, wo es wirtschaftlich schwierig ist, wo die Arbeitslosigkeit steigt …

    Capellan: Ist gemacht worden von Hans Eichel, von einem sozialdemokratischen Finanzminister.

    Gabriel: Ist von allen EU-Staaten gemacht worden.

    Capellan: Aber in Deutschland 2005 in Kooperation mit den Franzosen hat man den Stabilitätspakt aufgeweicht und quasi gute und schlechte Schulden kreiert.

    Gabriel: Nein. In allen europäischen Staaten ist gesagt worden, wir möchten nicht, dass in einer Zeit – damals war eine solche Zeit – wo die Arbeitslosigkeit steigt, die Staaten auch noch sparen müssen. Gleichzeitig ist für die Zeit, in der die Arbeitslosigkeit sinkt, die Auflage für die Sparmaßnahmen verschärft worden. Das ist der Grund, warum in der Phase, wo es für Deutschland besser wurde, Peer Steinbrück einen dramatischen Abbau der Verschuldung hat vornehmen müssen, aber auch vornehmen können.

    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Sigmar Gabriel, dem Vorsitzenden der SPD. Herr Gabriel, ist Europa auf dem Weg zu einer Transferunion? Wird es da einen automatischen Finanzausgleich geben, der in der Konsequenz dazu führt, dass auch der Lebensstandard in Deutschland sinken muss, sinken wird?

    Gabriel: Also, es gibt ganz bestimmt keine Transferunion nach dem Motto Länderfinanzausgleich, wie wir ihn in Deutschland zwischen den Bundesländern haben. Das wird es nicht geben. Aber ich sage, der Lebensstandard in Deutschland sinkt, jedenfalls für ganz, ganz viele Menschen. Für die breite Masse der Bevölkerung ist es doch so, dass sie in den letzten Jahren immer weniger teilgenommen haben am wirtschaftlichen Wohlstand. Im Zweifel sind die Preise gestiegen, aber die Löhne und Gehälter und die Renten nicht. Das hat nur einen einzigen Grund, dass wir in Deutschland in den letzten Jahren eine Politik hatten, dass bei uns zum Beispiel fünf Millionen Menschen arbeiten gehen und weniger als acht Euro in der Stunde verdienen. 1,3 Millionen Leute gehen richtig arbeiten, jeden Tag in der Woche, und danach müssen sie zum Sozialamt weil der Lohn, den sie kriegen, so niedrig ist, dass er für die Miete nicht reicht.

    Capellan: Ist Ihre Sorge, dass bei denen jetzt auch gespart wird, denn wir reden jetzt viel über Sparpakete?

    Gabriel: Also meine große Sorge: Die Bundeskanzlerin hat auf dem ökumenischen Kirchentag einen verräterischen Satz geprägt. Sie hat gesagt: "Wir in Deutschland leben über unsere Verhältnisse". Und da muss ich mal ganz offen sagen, da scheint sie nicht so richtig zu wissen, wie es aussieht im Land. Es gibt Menschen, die leben über ihre Verhältnisse. Das waren die, die an den Märkten gezockt haben. Aber vielen anderen steht im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser bis zum Hals. Ein Rentnerehepaar, das jahrelang keine Rentenerhöhung bekommt und jetzt höhere Krankenversicherungsbeiträge zahlen soll nach den Vorschlägen von Herrn Rösler, das sind doch keine Menschen, die über ihre Verhältnisse leben. Und da soll jetzt gespart werden.

    Capellan: Ja, wo soll denn gespart werden? Es wurde jetzt gesagt im Interview von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, er sagte, auf keinen Fall bei Forschung und Bildung, da stehen wir im Wort, auch im Koalitionsvertrag, aber man könnte zum Beispiel rangehen an den Etat der Arbeitsministerin. Also, Sozialleistungen müssten den Sinn haben, die Leute wieder in Arbeit zu bringen. Wo will die SPD sparen?

    Gabriel: Also jedenfalls nicht in der Arbeitsmarktpolitik, was Herr Schäuble da vorschlägt. Ich meine, in einer Zeit, wo wir viele Menschen haben, die wir nur dann in den Arbeitsmarkt kriegen, wenn sie besser qualifiziert werden, ausgerechnet da zu sparen ist nun nicht besonders klug. Ich mache Ihnen mal ein Beispiel. In meiner Region gibt es zwei marode Atommüllendlager. Die sind marode und müssen saniert werden, weil dort die Atomindustrie unverantwortlich Atommüll einfach weggekippt hat. Warum, frage ich, sollen eigentlich die zehn Milliarden, die das mindestens kosten soll, warum soll das eigentlich der Steuerzahler bezahlen? Da bin ich dafür, dass das mal schön die Industrie, die an dieser unverantwortlichen Art, Atommüll wegzukippen, verdient hat, das sollen die mal schön selber bezahlen

    Capellan: Das würde dafür sprechen, das zu tun, was die Koalition jetzt will, eine Laufzeitverlängerung bei den Atomkraftwerken durchzusetzen. Dann könnten sie mehr Gewinn machen, dann könnte man auch mehr kassieren.

    Gabriel: Warum eigentlich sollen wir uns Geld gegen Sicherheit eintauschen? Ich meine, Laufzeitverlängerung für die ältesten Meiler der Republik hat erstens zur Folge, dass wir so interessante Meiler wie Biblis, Krümmel, Brunsbüttel – da werden sich viele erinnern, was da in den letzten Jahren los war an Problemen – warum soll man die eigentlich länger laufen lassen und damit die Sicherheit gefährden?

    Capellan: Da gibt es ja Sicherheitsvorschriften, die noch zurückgehen auf Ihre Zeit als Umweltminister …

    Gabriel: Ja, deswegen wollen wir die ja auch stilllegen.

    Capellan: … und die werden nicht angewendet?

    Gabriel: Wieso? Deswegen haben wir die Laufzeiten für die genau begrenzt. Ich habe doch widersprochen der Laufzeitverlängerung, die die Kanzlerin wollte. Und deswegen haben wir Prozesse gewonnen. Wir haben dafür gesorgt, dass diese unverantwortlichen Laufzeitverlängerungen notfalls durch Gerichte gestoppt wurden. Die wollen sie jetzt weiterführen.

    Capellan: Also eine Laufzeitverlängerung nicht mit der SPD? Und Sie sind auch der Meinung, dass es über den Bundesrat entschieden werden muss?

    Gabriel: Ja na klar, weil natürlich eine Verlängerung der Laufzeiten bedeutet, dass die Länder noch länger für nukleare Störfälle und nukleare Risiken zuständig sind.

    Capellan: Es gibt Experten, die sagen, wenn es sich um fünf Jahre handelt, dann kann man das vernachlässigen, dann braucht man nicht eine erneute Beteiligung der Länder.

    Gabriel: Das sind die Experten, die eine Laufzeitverlängerung haben wollen. Außerdem will die CDU um bis zu 28 Jahre verlängern. Aber ich finde, das ist doch ganz klar, wir brauchen das Verfassungsgericht, um das im Zweifel zu klären.

    Capellan: Lassen Sie uns über Angela Merkel sprechen. Wird sie diesen Streit in der Union über die Laufzeitverlängerung, der offen ausgebrochen ist zwischen dem baden-württembergischen Mappus und Umweltminister Röttgen beispielsweise, glauben Sie, dass sie da ein Machtwort sprechen wird?

    Gabriel: Also, das einzige, was Angela Merkel noch nie gemacht hat, ist ein Machtwort sprechen. Manchmal ist es aber nötig. Ich glaube, sie hat große Schwierigkeiten, das Problem zu klären. Und leider entlarvt sie natürlich auch die von ihr behauptete Strategie. Sie hat ja gesagt, wir werden die Laufzeitverlängerung klären im Rahmen eines Energiekonzeptes, wo klar ist, wie entwickeln sich Erneuerbare, wie ist Energieeffizienz? Jetzt soll das alles vorgezogen werden. Völlig losgelöst von der Frage Energieeffizienz, Energieeinsparung, Erneuerbare soll jetzt vorab mal die Laufzeit verlängert werden. Das zeigt doch, worum es geht. Mit einem abgeschriebenen alten Atomkraftwerk macht das Unternehmen eine Million Euro pro Tag Gewinn. Und das soll den Unternehmen zugeschustert werden. Und dafür gibt es dann ein paar Brosamen für einen Fond für Energieeffizienz.

    Capellan: Sie haben gesagt, die Kanzlerin hat noch nie ein Machtwort gesprochen. Finden Sie nicht, dass sie sich verändert hat seit dem 9. Mai? Sie hat die Steuersenkungsversprechen der FDP kassiert, sie hat in gewisser Weise eingelenkt in Sachen Finanzmarktsteuer, wie auch immer sie ausgestaltet sein wird. Ist das eine Ursache der Wahlniederlage von Jürgen Rüttgers?

    Gabriel: Ja, sie wusste schon ganz lange, dass diese Steuersenkung, die sie mit der FDP vereinbart hat – man kann ja nun nicht Herrn Westerwelle etwas vorwerfen, was er gemeinsam mit Frau Merkel unterschrieben hat – aber sie wusste schon ganz lange, das geht nicht. Sie hat gelogen, dass sich die Balken biegen, als sie erzählt hat, das werden wir später prüfen. Sie wusste das ganz genau und sie wollte die Wahrheit nicht an den Tag bringen vor der Landtagswahl 9. Mai in Nordrhein-Westfalen.

    Capellan: Sigmar Gabriel, wie geht es weiter in Nordrhein-Westfalen? Sind Sie erst mal froh, dass es kein Linksbündnis geben wird?

    Gabriel: Wir haben schon vor der Wahl gesagt, dass die nordrhein-westfälische Linke – anders übrigens als die Linkspartei in Ostdeutschland – aus einer ganzen Reihe von Leuten besteht, die hochproblematisch sind, wenn man damit ein Land regieren will. Das sind alte DKP-Kader, die ihre eigene Vergangenheit versuchen zu rechtfertigen. Das sind Leute, die im Grunde nicht regieren wollen, sondern so ähnlich wie …

    Capellan: Also Spezialfall NRW?

    Gabriel: Ja es ist ein Spezialfall NRW:

    Capellan: Und das ist kein Signal für den Bund, für Gespräche mit einer Linkspartei 2013 beispielsweise?

    Gabriel: Wissen Sie, das kommt darauf an, ob Frau Wagenknecht, die ja für Nordrhein-Westfalen und die nordrhein-westfälische Linke durchaus auch steht, ob die sich in der Gesamtpartei Die Linke durchsetzt oder nicht. Auf dem letzten Parteitag in Rostock hat sie sich leider durchgesetzt. Und in Nordrhein-Westfalen, wissen Sie, das ist eine Partei, die hat dann erklärt, sie wolle nicht sich um den Haushalt kümmern. Sie wollte, während sie regiert, gleichzeitig gegen das, was wir in der Regierung mit ihr vereinbart hätten, klagen, öffentlich, also sozusagen Demonstrationen machen, vor Gericht ziehen. Ich muss ganz offen sagen, das ist natürlich so abenteuerlich, dass das nicht ging. Und ich finde es gut, dass Hannelore Kraft gezeigt hat, dass man nicht nur damit man Regierungschefin wird, nur um an die Regierung zu kommen, zu allem bereit ist, sondern dass es zuallererst um die Frage geht, kann man etwas politisch verantworten, ja oder nein. Und das konnten wir nicht verantworten.

    Capellan: Kann sie noch Regierungschefin werden?

    Gabriel: Nun, sie wird jetzt mit der CDU verhandeln. Ich hoffe, dass auch die FDP noch mal zur Besinnung kommt, und dann wird man sehen. Ich meine, es gibt alle Möglichkeiten einer Regierungsbildung mit der CDU, auch mit der FDP und den Grünen gemeinsam. Das wäre, aus meiner Sicht, immer noch die beste Lösung, wenn die FDP besseren Sinnes würde.

    Capellan: Keiner rechnet damit. Dann hätten wir die große Koalition auch mit einem "Junior"-Partner SPD. Es geht um 6000 Stimmen, die die Union vorne liegt. Das wissen wir.

    Gabriel: Na, erst mal hat sie im Landtag genau so viele Sitze wie wir. Und ich finde, auch da muss sich die Linie von Frau Kraft durchsetzen, die sagt, es geht am Anfang nicht um die Frage, wer wird Ministerpräsident.

    Capellan: Sie hat immer gesagt, sie möchte Ministerpräsidentin werden.

    Gabriel: Na klar, das finde ich auch übrigens richtig. Ich meine, wer richtig verloren hat ist Herr Rüttgers. Ich kriege Briefe von Unternehmern aus Nordrhein-Westfalen, die schreiben mir: Nun werden Sie doch wohl nicht den Rüttgers wieder zum Ministerpräsidenten machen. Die schreiben mir: Machen Sie es lieber mit der Linkspartei als mit denen. Werden wir nicht machen.

    Capellan: Trotzdem liegt Rüttgers vorne. Ich meine, Gerhard Schröder hatte 2005 auch gedacht, er könnte Bundeskanzler bleiben. Das war auch ein Irrtum.

    Gabriel: Er ist es ja auch nicht geblieben. Aber wir haben 2002 gezeigt, dass man auch mit wenigen Stimmen Vorsprung gewinnen kann. Das nimmt Rüttgers jetzt für sich auch in Anspruch. Ich kann das auch verstehen, bin auch nicht böse. Aber die CDU alleine kann keine Regierung bilden. Jetzt sagt die Frau Kraft: Nein, ich will zuerst mal gucken, geht das inhaltlich mit der CDU, und wenn es inhaltlich geht, dann können wir über alles reden. Wenn es inhaltlich nicht geht . . .

    Capellan: Also, wenn es inhaltlich geht, geht es auch mit Jürgen Rüttgers?

    Gabriel: Jedenfalls hat Hannelore Kraft gesagt, am Anfang klären wir mal die Inhalte.

    Capellan: Aber Sie schließen es nicht aus, dass Rüttgers Ministerpräsident bleibt?

    Gabriel: Gucken Sie, wenn wir jetzt sagen, wir reden mit der CDU, dann sagt die SPD wir wollen die Inhalte klären. Natürlich wollen wir, dass Hannelore Kraft Ministerpräsidentin wird, wenn wir dann erklären würden. Aber nie im Leben reden wir über die Diskussion, ob Herr Rüttgers es nicht auch sein könnte, denn dann brauchen wir nicht mit denen reden.

    Capellan: Würde Jürgen Rüttgers gehen, würde es allerdings für die SPD leichter sein, auch als Juniorpartner in eine solche Koalition zu gehen. Falsch?

    Gabriel: Ich halte nichts davon, wenn man ankündigt, man spricht mit einer anderen Partei über die Frage, können wir eine gemeinsam eine Regierung machen, dem vorher über den Rundfunk mitzuteilen, was er denn bitte mal machen soll, damit wir überhaupt reden. Das ist Quatsch. Frau Kraft macht das absolut richtig.

    Capellan: Sie glauben, sie wird Regierungschefin in Düsseldorf werden?

    Gabriel: Ich glaube, dass es für Nordrhein-Westfalen das Beste wäre, wenn sie es würde. Übrigens, das denken ja auch die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen, wenn Sie sich die Umfragen angucken.

    Capellan: Zum Schluss lassen sie uns noch mal kurz den Bogen zur Finanzkrise spannen. Wir haben über Gerhard Schröder geredet. Was hätte er anders gemacht?

    Gabriel: Erstens hätte er nicht gezaudert und gezögert, sondern er hätte schnell entschieden. Wir haben ja eine Milliarde Mehrkosten nur deshalb, weil Frau Merkel bis zum 9. Mai taktieren wollte. Und zweitens, er hätte sich getraut, den Deutschen zu sagen, dass wir das größte Interesse an einem stabilen Euro haben, weil unsere Jobs davon abhängen. Frau Merkel hat statt dessen monate- und wochenlang erklärt ‚Keinen Cent für Griechenland’, hat sich als ‚eiserne Kanzlerin’ abbilden lassen in der Bild-Zeitung, immer nur, um bis zum 9. Mai, der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, zu kommen. Das hätte Schröder nicht gemacht.

    Capellan: Was hätte Peer Steinbrück anders gemacht?

    Gabriel: Peer Steinbrück hätte vor allen Dingen die Vorschläge zur Finanzmarktregulierung, die wir entwickelt haben, weiter umgesetzt. Und er hätte von Anfang an klar gesagt: Kann ja wohl nicht wahr sein, dass die Steuerzahler den Sermon bezahlen sollen.

    Capellan: Er war ja nicht so besonders beliebt in Ihrer Partei, Stichwort Heulsusen …

    Gabriel: Bei mir schon.

    Capellan: Bei Ihnen schon, aber es gab ja viel Kritik an Peer Steinbrück. Jetzt fällt auf, dass er wieder groß im Kommen ist, viel gelobt wird. Sie haben gesagt, der kann jedes Amt. Kann er Kanzler?

    Gabriel: Der wird sich bei mir bedanken, wenn ich das noch mal sage. Der ist hinterher zu mir gekommen und hat gesagt: "Bist du verrückt geworden, mich so zu loben? Jetzt denken alle, ich will Kanzler werden."

    Capellan: Also, er will gar nicht?

    Gabriel: Nein. Peer Steinbrück hat für sich eine Lebensentscheidung getroffen, die heißt, er will weiter im Parlament sein, arbeitet auch mit, ist übrigens einer derjenigen, von denen ich mich am intensivsten beraten lasse. Aber er strebt eben kein öffentliches Amt mehr an, was ich persönlich sehr bedaure. Trotzdem, ich wiederhole …

    Capellan: Für Sie persönlich gut. Dann könnten sie Kanzler werden.

    Gabriel: Ach Gott, nein. Wissen Sie, wir haben gerade vor einem halben Jahr eine Bundestagswahl verloren mit 23 Prozent. Das Dümmste, was man machen kann, ist dann über Kanzlerkandidaten zu reden. Aber er ist einfach jemand, der klug ist. Und wie das so ist, manchmal dauert es eine Weile, bis auch die eigenen Leute verstehen, wie klug der ist.

    Capellan: Aber sie sind doch ein langjähriger Schröder-Vertrauter und eher ein Typ, der da auch gerne mal rein möchte ins Kanzleramt. Oder sehe ich das falsch?

    Gabriel: Ich rate dazu jedem, der ein Amt bekommt, sich erst mal darum zu kümmern, dass er das Amt gut ausübt, das er gekriegt hat.

    Capellan: Letzte Frage. Es bleibt dabei, der SPD-Vorsitzende hat den ersten Zugriff, wenn es um die Kanzlerkandidatur geht.

    Gabriel: Ich habe das immer für Quatsch gehalten. Es ist doch Unsinn. Wieso hat eigentlich der Vorsitzende den ersten Zugriff? Klug beraten ist man doch, dass sich das Führungspersonal zusammen setzt und guckt, wer hat die besten Chancen, den schlagen wir der SPD vor.

    Capellan: Wann wollen Sie das entscheiden?

    Gabriel: Frühestens ein Jahr vor der Wahl, nicht vorher. Alles andere ist doch Unsinn.

    Capellan: Sigmar Gabriel, besten Dank für das Gespräch.

    Gabriel: Bitte.