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"Wir wurden gebrandmarkt"

Dreizehn Monate lang war die Wehrmacht während des Krieges in Demjansk vollkommen abgeschnitten – eine einschneidende Zeit für die Bewohner des kleinen russischen Ortes. Vor der deutschen Besatzung lebten etwa 20.000 Einwohner im Dorf; heute sind es gerade noch 6.000. Der Krieg und die Besatzung haben ihre Spuren hinterlassen.

Von Gesine Dornblüth und Thomas Franke | 07.05.2005
    Ija Dmitrijeva, die Veteranin, die den Schülern das Lied aus der Erdhöhle vorgesungen hat, ist auf dem Weg vom Heimatmuseum zur Siegesfeier. Eine schwarze Handtasche in der Hand, stöckelt sie im offenen blauen Mantel und zu engen Schuhen einen sandigen Fußweg entlang. Links von ihr der Fluss Javon.

    Es ist kurz vor zehn. Ija Dmitrijeva biegt um die Ecke auf die Hauptstraße. Auf der anderen Straßenseite steht ein Abwehrgeschütz auf einem weiß getünchten Sockel. Auch der Zaun dahinter, die Bank und der Mülleimer sind frisch mit grüner und weißer Farbe gestrichen, selbst die Bordsteinkanten sind geweißt.

    Zum Tag des Sieges soll alles hell und fröhlich sein. Dmitrijeva winkt hinüber zu einer Familie mit zwei Kindern. Von überall strömen die Menschen einzeln oder in kleinen Gruppen zum zentralen Platz der Kleinstadt.

    In Demjansk war der Krieg besonders brutal. Dadurch, dass die Wehrmacht 13 Monate nahezu abgeschnitten war, wurden die Lebensbedingungen im Kessel immer härter. Das bekam vor allem die dort verbliebene Bevölkerung zu spüren. Ija Dmitrijeva war neun Jahre alt, als die Deutschen 1941 nach Demjansk kamen. Sie hatte gerade die erste Klasse beendet. Nach den ersten Angriffen floh ihre Mutter mit ihr, der älteren Schwester und dem damals zweijährigen Bruder zu Verwandten in ein Dorf. Nach wenigen Tagen kehrten sie nach Demjansk zurück: Die Kartoffeln mussten geerntet werden.

    "Als wir aus dem Dorf zurückkamen, war alles verbrannt. Die Brücke war zerstört, unser Haus abgebrannt, aber das Haus von unserem Großvater war heil, und wir haben ein Jahr und drei Monate dort gewohnt, während der gesamten Besatzungszeit."

    Ija Dmitrieva überquert die Brücke im Ortszentrum, grüßt nach rechts und nach links. Demjansk ist ein kleiner Ort mit gerade mal 6.000 Einwohnern. Birken, Tannen, Pappeln säumen die Straße. Im Zentrum stehen einige zweistöckige Verwaltungsgebäude, die meisten Menschen wohnen in Holzhäusern.

    Vor dem Krieg haben 19.000 Menschen in der Stadt gelebt, es hat auch viel mehr Backsteinhäuser gegeben, erzählt Dmitrieva. Anfangs habe sie die Deutschen sogar nett gefunden, weil sie Spielzeug und Bleistifte aus den Flugzeugen abwarfen für die Kinder. Das änderte sich schnell.

    "Von Schule konnte nicht die Rede sein. Alles war zerstört, oder, wenn es nicht zerstört war, besetzt. Auch in der Schule, in die ich ging, waren deutsche Truppen untergebracht. Meine ältere Schwester hat damals ihre Schulbücher aufgehoben, und wir haben dann ein bisschen was wiederholt, damit ich nicht alles vergesse, was ich in der ersten Klasse gelernt hatte. Wissen Sie, besonderen Eindruck hat es auf mich gemacht, als sie die Kriegsgefangenen vor sich hergetrieben haben. Das war schrecklich. Die Winter waren hart, und deshalb haben die Deutschen allen die Schuhe weggenommen. Da ging eine Frau in Filzstiefeln. Der Deutsche hat ihr von hinten einen Schlag versetzt und ihr Bastschuhe hingeworfen."

    Auf dem Platz warten bereits gut hundert Menschen vor dem Lenindenkmal. Lenin gehört noch dazu, metallen, erstarrt in der Bewegung nach vorn, den rechten Arm einladend und gebieterisch zu gleich ausgestreckt. Zwei Frauen mit einen kleinen Kind an der Hand kommen aus der anderen Richtung die Leninstraße hinunter, zwischen sich tragen sie ein großes Gebinde.

    Lautsprecher hängen an den Laternenpfählen und bunte Fähnchen. Die Menschen stehen in Gruppen zusammen, Familien, Jugendliche, Nachbarn, Uniformierte, alte Frauen mit Kopftüchern und Männer mit Mützen und mit Krückstöcken. Orden glitzern auf teils löchrigen und zerschlissenen Mänteln und Jackets, einige haben kaputte Filzpuschen an.

    Ein hagerer hoch aufgeschossener Mann mit breitem Mund und weit abstehenden Ohren, ruft über den Platz, hebt am Fuße des Lenindenkmals die Hand - der Kriegskommissar des Bezirks Demjansk. Kriegskommissariat, so heißen in Russland bis heute die Stellen, die sich um die Rekrutierung der Armee kümmern.

    Der Bürgermeister, der Chef der Miliz, der Vorsitzende der örtlichen Veteranenvereinigung und pensionierte Offiziere stellen sich nebeneinander auf. Zum Feiertag haben viele noch einmal ihre Uniform angezogen. Alle tragen rote Nelken in den Händen. Dahinter die Veteranen, viel mehr Frauen als Männer, dann eine Reihe Jugendlicher.

    Zu zehnt tragen sie eine aus Tannengrün geflochtene Girlande vor sich her. Dann der Rest der Bevölkerung. Polizisten in grauen Overalls flankieren den Zug. Der Kriegskommissar prüft die Aufstellung, dann gibt er ein Zeichen. Der Zug setzt sich in Bewegung, durch den Ort in Richtung Ehrenhain, dort hin, wo während der deutschen Besatzung von Demjansk das Lager Popovo Boloto. Ija Dmitrijeva geht weit hinten, am Rand.

    "Wir Kinder sind oft zum Gebäude des Bezirkskomitees gelaufen. Dort hatten die Deutschen ein Lazarett, da wurde operiert, und als die Deutschen weg waren, lagen dort noch überall abgesägte Beine von den Deutschen herum. Für uns Kinder war das ein beeindruckendes und schreckliches Bild."

    An Verbrechen von Deutschen an der Zivilbevölkerung kann sich die 69jährige nicht erinnern. Aber in den Nachbardörfern hätten Kinder gelitten, sehr gelitten. Eine Frau neben ihr mischt sich ein. Nina Antonova arbeitet in der Bezirksverwaltung.

    "Das waren Verbrechen gegen die Zivilisation, denn das Volk wurde vernichtet."

    Im Lager in Demjansk wurden mehr als 100.000 Menschen umgebracht, erzählt Ija Dmitrijeva - im Heimatmuseum von Demjansk ist von 20.000 Opfern die Rede. Die Angaben schwanken. Lange hieß es, dass im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Sowjetbürger ums Leben gekommen sind, es waren aber wahrscheinlich viel mehr.

    Die paradoxe und menschenverachtende Sowjetpropaganda korrigierte die Opferzahlen auch nach dem Krieg nach unten, um den Ruhm der Sowjetarmee nicht zu schmälern. Für die Zivilisten, die die deutsche Besatzung überlebt hatten, ging die Unterdrückung nach Kriegsende weiter. Denn sie galten unter Stalin als Kollaborateure, als Verräter, und wurde weiter diskriminiert.

    "Der Cousin von meiner Mutter zum Beispiel geriet in Gefangenschaft. Er hatte beide Beine gebrochen und kam deshalb in das Lazarett der Deutschen. Als unsere Truppen kamen, musste er sofort an die Front, und dann, nach Kriegsende, in den Schacht bei Tula, weil er in Kriegsgefangenschaft gewesen war. Dabei war er doch gar nicht schuld gewesen. Wir wurden gebrandmarkt, weil wir in Gefangenschaft gewesen waren. Das hinterlässt auch heute noch einen bitteren Nachgeschmack. Aber was soll's, jetzt, nach so viel durchlebten Jahren."

    Einen Moment kehrt sich der Blick der alten Frau nach innen, dann schlägt ihre Stimmung auf einmal wieder um.

    Sie hätte Kinder, Enkelkinder, sie habe reisen können, in die Tschechoslowakei, in die DDR. Tod, Verfolgung, Entbehrungen - die Repressalien nach dem Krieg werden am Tag des Sieges verdrängt. Ija Dmitrijeva zitiert ein Gedicht. Der Krieg ist vorbei, das Leid ist vorbei, heißt es da, aber der Schmerz ruft die Menschen auf, niemals zu vergessen.