Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv


Wirklichkeitssinn

Als der englische Philosoph und Ideenhistoriker Sir Isaiah Berlin im November letzten Jahres im Alter von 88 Jahren verstarb, feierten ihn die Nachrufe als einen der größten Vertreter jenes Liberalismus, der am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gesiegt habe. Schon seine Herkunft als Russe, Jude und Bourgeois - Berlins Vater war Holzhändler in Riga - mußte ihn zum Gegner der zerstörerischen politischen Ideen des Jahrhunderts machen. Wäre Berlin nicht schon 1921 nach England gekommen, so hätte er entweder dem sowjetischen Kommunismus oder dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fallen müssen. Berlin, dessen erste Sprache das Deutsche war, während er Russisch erst vom dritten Lebensjahr an sprach, hat das gewußt. Ähnlich wie sein zehn Jahre älterer Landsmann Vladimir Nabokov, der Sohn eines russischen Grafen und Reformpolitikers, hat er die leninistische Diktatur von Anfang an abgelehnt. Anders als Nabokov, der Lenins Humanität wegwerfend in das Bild einer toten Ratte am Boden einer Kanne Milch faßte, hat Berlin sich sein Leben lang argumentativ mit der kommunistischen Utopie auseinandergesetzt. Und er hat ein Freiheitsdenken entwickelt, das der totalitären Versuchung den stärksten Widerstand entgegensetzte. Dabei half ihm die vollkommene Assimilation an seine neue englische Heimat. Die Briten haben ihn als einen der Ihren anerkannt, ihn nicht nur geadelt, sondern sich in der akademischen Welt so sehr zu ihm bekannt, daß der Satz "I am a Berliner" zu einem Erkennungszeichen in Oxford und Cambridge wurde.

Gustav Seibt | 17.05.1998
    Wenn jetzt ein umfangreicher Band mit Essays - etwas anderes als Essays hat Berlin kaum geschrieben - unter dem Titel "Wirklichkeitssinn" erscheint, dann muß dieser Titel programmatisch und dieser letzte einer längeren Reihe von auch ins Deutsche übersetzten Bänden wie ein Vermächtnis wirken. Die neue Sammlung enthält aber keineswegs vorwiegend Arbeiten aus Berlins letzten Jahren. Die neun Abhandlungen entstammen den Jahrzehnten seit den fünfziger Jahren; gerade zwei Kernstücke, materialreiche Darstellungen des marxistischen und sozialistischen Denkens, wurden in der Zeit des Kalten Krieges, lange vor 1989 verfaßt. Aus dieser Zeit stammen auch zwei Essays über den Nationalismus, was insofern buchenswert ist, als die Problematik nationaler Emotionen erst durch den Zerfall des sowjetischen Blocks wieder auf die Agenda des westlichen Denkens gekommen ist. Berlin war da hellsichtiger, oder anders gesagt: er hatte das längere, dauerhaftere Gedächtnis.

    Der neue vom Berliner Berlin Verlag sorgfältig edierte Berlin-Band zeigt einen gemächlich ansteigenden Grad von Interessantheit. Gerade bei der Lektüre der ersten beiden Essays - sie behandeln den "Wirklichkeitssinn" und die von ihm genährte "Politische Urteilskraft" - ist man gut beraten, sich ein Bekenntnis Berlins von der letzten Seite des neuen Bandes vor Augen zu halten:

    "Es gibt eine bemerkenswerte Äußerung des amerikanischen Philosophen C.I. Lewis, die mir schon immer gefallen hat. Er hat gesagt: ‘Es gibt nicht den geringsten Grund zu der Annahme, daß die Wahrheit, wenn wir sie entdecken, interessant sein wird.’ Trotzdem sollten Worte eher wahr als interessant sein."

    Über die interessante Frage, was politische Urteilskraft sei, hat Berlin wenig mehr mitzuteilen als Gemeinplätze und ein paar Vergleiche:

    "Wie sollen wir diese Fähigkeit nun nennen? Praktische Weisheit, praktische Vernunft? Vielleicht. Ein Gefühl für das, was ‘geht’ und was ‘nicht geht’? Vor allem ist es die Befähigung zur Synthese und weniger zur Analyse: ein Wissen vergleichbar mit jenem, das Dompteure über ihre Tiere, Eltern über ihre Kinder oder Dirigenten über ihr Orchester haben."

    Schön, wahr und ein bißchen langweilig. Die historische Wirklichkeit enthalte, so Berlin, derart viele nur unbewußt aufgenommene Hintergrunddaten, daß ihre künstliche Fabrikation in Gestalt einer Utopie unvorstellbar sei. Berlin erläutert das an einem seltsamen Gedankenexperiment. Kann man, so fragt er, eine vergangene Zeit, zum Beispiel das vierzehnte Jahrhundert, wiederherstellen? Die Pointe dieser sonderbaren Frage ist, daß es das vierzehnte Jahrhundert und seine der heutigen so fremde Kultur wirklich gegeben hat, daß also die künstliche Herstellung desselben Zustands nicht so unvorstellbar ist wie eine ausgedachte ideale Zukunft. Trotzdem ist aber nicht einmal eine Rückkehr in eine schon dagewesene, also mögliche Vergangenheit, vorstellbar, eben der tausend Faktoren wegen, die wir nicht kennen, die aber doch zu dieser einstigen Wirklichkeit beigetragen haben. Das wichtigste Argument in seinem Gedankenspiel bringt Berlin allerdings nicht vor: Eine künstliche Wiederherstellung des vierzehnten Jahrhunderts läßt sich schon deshalb nicht machen, weil man am Ende vergessen müßte, daß man schon einmal in einer anderen Welt gelebt hat, einem zwanzigsten Jahrhundert, das so ganz verschieden aussieht. Daß Geschichte sich nicht zurückdrehen läßt, liegt nicht nur an der Unüberschaubarkeit der Faktoren, die eine geschichtliche Welt konstituieren, sondern auch daran, daß sich Gedächtnis und Bewußtsein nicht beliebig mit Inhalten füllen oder wieder von ihnen entleeren lassen.

    Wirklichkeitsinn und politische Urteilskraft haben für Berlin künstlerische Qualitäten; sie beruhen auf einer umfassenden, analytisch nicht formalisierbaren Wahrnehmungsfähigkeit. Dieser Gedanke ist von englischer Einfachheit; Berlin formuliert ihn mit russischer Ausführlichkeit und deutscher Gründlichkeit, immerhin so geläufig und wortreich, daß man gern die Mitteilung glaubt, er habe bis zu 400 Wörter pro Minute, doppelt so viel wie ein noramler Sprecher, heraussprudeln können.

    Danach steigt die Interessantheit spürbar an. Der Vortrag über "Philosophie und staatliche Unterdrückung" enthält eine Anwendung von Berlins berühmter Freiheitsphilosophie. Berlin unterschied scharf zwischen "negativer" und "positiver" Freiheit. Die "positive" Freiheit meint die Möglichkeit, Werte und Ideale gesellschaftlich zu verwirklichen, also letztlich für andere Menschen verbindlich zu machen. Die "negative" Freiheit ist die individuelle Wahlfreiheit für eigene Lebensformen und Überzeugungen, die die Abwesenheit äußeren Zwanges voraussetzt. Die positive Freiheit ist das Prinzip der Demokratie und der Gleichheit, die negative Freiheit ist das Prinzip des Rechtsstaats und des Liberalismus. Berlin hält, ganz im Einklang mit dem liberalen Denken eines Tocqueville, die negative Freiheit für die entscheidende. Und zur Vorkämpferin dieser negativen Freiheit macht er die Philosophie, nicht eine bestimmte Philosophie, sondern das Prinzip der Philosophie.

    Das klingt paradox, denn natürlich weiß auch Berlin, daß es immer philosophische Doktrinen gab, die die Freiheit einschränkten. Aber das Wesen der Philosophie, so erklärt Berlin, ist es, Fragen aufzuwerfen, die in einem vorherrschenden Gedankensystem oder Weltbild gar nicht vorgesehen sind. Philosophie besteht nicht in der technisch auszuführenden Lösung von Problemen, die innerhalb eines Systems auftreten, sondern in der Infragestellung des Systems als solchen. Philosophie ist also der permanente Kategorienwechsel, heute würde man sagen, der ununterbrochene Paradigmenwechsel. Das Prinzip der Philosophie ist die denkerische Revolution. Deshalb gibt es auch keinen philosophischen Fortschritt und keine gelösten Fragen. Gedanken gibt es nur da, wo es keine festgelegten Begriffssysteme und klaren Definitionen gibt. Auf praktische Menschen wirkt Philosophie daher oft haarspalterisch und geschwätzig. Aber gerade ihre unpraktischen, verrückten und sogar abwegigen Eigenschaften machen die Philosophie zur Statthalterin der Freiheit. Nie wird sie mit einem Staat auf Dauer zurechtkommen, der auf ein fixiertes Weltbild gegründet ist. Es kann keinen Staat der Philosophen geben. Das ist Berlins stärkstes Argument gegen die Verirrungen dieses Jahrhunderts, und das Ende seines Vortrags über "Philosophie und staatliche Unterdrückung" klingt wie eine Hymnus auf die Freiheit, und zugleich ist es ein Lobpreis der Philosophie:

    "Gäbe es eine endgültige Lösung, ein endgültiges Muster, zu welchem sich die Gesellschaft umformen ließe und gegen das zu rebellieren eine Sünde wäre, da dieses Muster das Heil schlechthin wäre, dann müßte die Freiheit zur Sünde werden. Indem sie diese unheilvolle Sichtweise widerlegt und immer wieder Belege für deren Falschheit beibringt, dient die Philosophie, oder jedenfalls das Werk ihrer besten Vertreter, der Sache der Freiheit: Dies gehört, genauer gesagt, zu ihrem innersten Wesen und ist nicht bloß eine Begleiterscheinung; es ist eine notwendige Bedingung philosophischen Wirkens, und darin unterscheidet sich die Philosophie von anderen Bereichen menschlichens Denkens. Sie bedarf keiner Rechtfertigung, sie ist unverzichtbar für den Menschen und ein Zweck in sich selbst. Und schon die Vorstellung, daß diese oder jene Aktivität gerechtfertigt, daß ihr Wert demonstriert und bewiesen werden muß, ist eine Schöpfung der Philosophie. Doch wer nicht anerkennen möchte, daß es Aktivitäten gibt, die sich von selber rechtfertigen, und wer bei allem, was getan wird, erst nach irgendeinem gesellschaftlichen Nutzen sucht, bevor er es das Raster seiner moralischen Beurteilungskriterien passieren läßt, dem wird vielleicht der einzigartige Zusammenhang zwischen dem philosophischen Wirken und jenem Minimum an Freiheit, das eine Gesellschaft braucht, um frei genannt zu werden, als Antwort reichen. Natürlich wird sich eine Gesellschaft nie ganz sicher fühlen können - auf felsenfeste, unverrückbare Fundamente gebaut -, wenn Philosophen nach Lust und Laune umherstreifen dürfen. Deren Unterdrückung würde die Freiheit jedoch ebenso töten. Deshalb fallen alle Feinde der Freiheit automatisch über die Intellektuellen her und machen sie, wie die Kommunisten und Faschisten vorgeführt haben, zu ihren ersten Opfern; und das aus gutem Grund, denn sie sind die maßgeblichen Verbreiter jener kritischen Ideen, die in aller Regel von den großen Philosophen formuliert werden - alle übrigen können möglicherweise dazu gebracht werden, sich mit dem neuen Despotismus zu arrangieren, doch sie allein sind, ob sie es wollen oder nicht, prinzipiell unfähig zu einer derartigen Anpassung. Ist etwas Ruhmreicheres vorstellbar?"

    Philosophie ist eine stets subversive Praxis des Denkens, und nur so ist sie eine Garantin der Freiheit. Praktisch angewendete Philosophie dagegen führt leicht in die Unfreiheit. So war es in der Geschichte von Sozialismus und Marxismus, die Berlin in zwei ausführlichen Beiträgen leicht verständlich zusammenfaßt. Den lebensreformerischen Anliegen des vormarxistischen Frühsozialismus versagt Berlin dabei nicht seine Sympathie. Er spricht von der natürlichen Barmherzigkeit und der tiefen Verletzung des Rechtsempfindens, die in der Zeit der ersten Industrialisierung das sozialistische Denken prägten. Ein ganzer Kontinent vergessener ökonomischer und sozialer Theorien wird vermessen: Baboeuf, Proudhon, Fourier, Owen, Lasalle und dann erst Marx und Engels werden sichtbar. Von Charles Fourier weiß Berlin zu berichten:

    "Fourier besaß eine aggressive, hemmungslose und exzentrische Phantasie; seine kosmologischen, psychologischen, botanischen und zoologischen Spekulationen sind mitunter so bizarr, daß sie an Irrsinn grenzen. Im Verlauf einer tiefschürfenden und realistischen soziologischen Erörterung diskutiert er nicht bloß den Einfluß der Fäulnis des Mondes auf die menschliche Ernährung, sondern er erfindet auch Zyklen von zwanzigtausend auf- oder absteigenden Stufen kosmischen Fort- oder Rückschritts und prophezeit das Erscheinen neuer Tierarten, die dem Menschen von Nutzen sein werden, freundliche ‘Antilöwen’ etwa, die für ihre Herren mit großem Eifer Routinearbeiten verrichten, oder ‘Antiwale’, die Schiffe an einem einzigen Tag über den Atlantik ziehen (wobei sich das Meer inzwischen auf rätselhafte Weise in einen Ozean von Limonade verwandelt hat). Doch wie dem auch sei, Fouriers Kritik ist gespickt mit unvergeßlichen, brillanten Einsichten, und ihr Einfluß sollte sich als überaus nachhaltig erweisen."

    Weit weniger freundlich, pittoresk und harmlos stellt sich für Berlin das Denken von Karl Marx dar. Er zeigt, wie Marx die Menschheit mit jener Klasse identifiziert, die gar nichts besitzt, die also nichts mehr zu verlieren hat. Dabei schwingt deutlicher Respekt vor der Stringenz der Marxschen Konstruktion mit:

    "Das ausgebeutete, erniedrigte, entmenschlichte Proletariat der Neuzeit, das als unterste aller Klassen nicht mehr tiefer sinken konnte, repräsentiert ‘die Menschheit an sich’; seine Klasseninteressen, die mit den unabdingbaren menschlichen Grundbedürfnissen identisch sind, stehen für die Interessen aller Menschen, denn es verfolgt keine Interessen, die irgendeiner anderen menschlichen Gruppe widersprechen oder im Wege stehen; da es aller Möglichkeiten menschlicher Bedürfnisbefriedigung in einem Ausmaß beraubt ist, das gerade noch das nackte Überleben garantiert, braucht und fordert das Proletariat genau das, was Menschen haben müssen, wenn sie ein Leben führen wollen, das menschlich genannt werden darf."

    Doch diese Konstruktion ist am Ende nicht mehr als ein Kunstgriff, der eine besonders gefährliche Waffe in die politische Wirklichkeit einführt:

    "Die politischen Konsequenzen dieses Kunstgriffs können gar nicht genug betont werden: Marx präsentierte den Zornigen, den Elenden, den Armen und Unzufriedenen einen konkreten Feind - den kapitalistischen Ausbeuter, die Bourgeoisie. Er erklärte einen heiligen Krieg, der den Armen und Ausgebeuteten nicht bloß Hoffnung gab, sondern auch eine ganz bestimmte Aufgabe - und das war der Aufruf, sich für einen erbarmungslosen Krieg zusammenzuschließen, für einen Kampf mit der Aussicht auf Blut, Schweiß und Tränen, auf den Tod und möglicherweise auch auf anfängliche Niederlagen, aber vor allem mit der Garantie auf ein Happy-End."

    Die Theorie von Marx gehört zu jenen Gedanken, die für Berlin zu interessant sind, um wahr sein zu können. Als Wahrheit in die Wirklichkeit umgesetzt, führen sie zur Unterdrückung der Freiheit. Ihr polemisches Potential verschafft ihnen eine historische Wirksamkeit, die nicht aus sozialen Umständen abgeleitet werden kann. Marx behandelt Werte wie objektive Tatsachen, daher kommt die Schlagkraft seines Denkens. Aber gerade die behauptete Objektivität seiner Wertsetzungen, ihre Verankerung in einer scheinbar neutral geschilderten sozialen Wirklichkeit widerspricht jener Grundbedingung des modernen Denkens, die Berlin die "romantische Revolution" nennt und die die ideengeschichliche Grundlage seiner Freiheitstheorie darstellt.

    Der Aufsatz über die "romantische Revolution" ist der aufregendste des ganzen Bandes. Diese "Revolution", eine Umwälzung des Denkens um 1800, die in Deutschland stattfand und von dort aus die Welt eroberte, meint die Subjektivierung von Wertsetzungen und Wahrheitsbegriffen. Vor dieser Umwälzung gab es, Berlin zufolge, eine harmonische Weltordnung, in der die Natur, die menschliche Geschichte und die Moral ein zusammenhängendes Kontinuum darstellten. Ethik war ein von allen Menschen anerkennbares, vernünftiges System, intersubjektiv verankert und feststellbar wie Fakten der äußeren Natur, wie Sternenlauf und Erdumdrehung. Vernunft war universal, Wirklichkeit außen und objektiv, Moral eindeutig und unterschiedlichen praktischen Bedingungen anzupassen. Doch dann wandte sich das Denken nach innen, wurde eine Frage von Überzeugung und Gewissen. Wahrheit und Ethik verwandelten sich zu Emanationen der Innerlichkeit, des individuellen Gefühls; so wurden sie kunstförmig, expressiv. Aus der pietistischen Revolte des deutschen Protestantismus gegen den äußerlichen französischen Rationalismus sieht Berlin diese Revolution des modernen Denkens hervorgehen. Sie ist für ihn eine unmittelbare Folge der deutschen Zurücksetzung in der Epoche nach dem Dreißigjährigen Krieg und insofern mit einem reaktiven Nationalgefühl eng verknüpft. Bei Kant harmonierte noch das Sittengesetz in der Brust es Einzelnen mit dem gestirnten Himmel über ihm; aber schon war es eine Gewissensfrage geworden, ein Ausdruck indiviuduellen Fühlens und der unvergleichlichen und unverrechenbaren Individualität. Denken und Moral werden, so kann man Berlin zusammenfassen, seelisch, sie verlieren so ihre Objektivität und Verbindlichkeit.

    Berlin hält diese "romantische Revolution" für die größte Umwälzung der Geistesgeschichte, seit die griechische Stoa sich vom platonischen Staatsdenken und der aristotelischen Ethik ab- und dem Glück des einzelnen zuwandte, und seit Machiavelli die Unvereinbarkeit von christlicher Ethik und moderner Politik erkannte, womit er laut Berlin den neuzeitlichen Pluralismus begründete. Berlins Darstellung dieses neuartigen romantischen Subjektivismus gewinnt an Brisanz, wenn man sich klarmacht, daß die Stelle der auf ihrem eigenen Fühlen beharrenden Subjektivität auch vom Kollektivsubjekt der Nation besetzt werden kann: Es gibt dann nationale Wahrheiten und Werte, die sich nicht mehr menschheitlich verallgemeinern lassen.

    Berlins Diagnose der neuzeitlichen Subjektivierung von Wahrheitsansprüchen und Moralvorstellungen zeigt im Zusammenhang seiner eigener Freiheitstheorie eine bemerkenswerte Zwiespältigkeit. Einerseits ist der Verlust der alteuropäischen Objektivität zerstörerisch, denn er liegt jenem Chauvinismus zugrunde, der Menschen fremder Abstammung aus der Menschheit ausschließt und verfolgt. Andererseits ist die Vielfalt und Unverrechenbarkeit individueller Überzeugungen der Motor jener stets sich selbst überholenden Philosophie, die gegen jede Unterdrückung aufsteht, weil sie mit festgefügten Weltbildern nicht mehr leben kann. Außerdem entsteht durch die Verinnerlichung der Wertvorstellungen eine eigentümliche Verantwortungslosigkeit:

    "Wenn allein wir die Urheber von Wertvorstellungen sind, dann zählt nur unser Inneres, die Absicht, und nicht die Folge oder das Ergebnis. Für die Folgen können wir nämlich nicht die Hand ins Feuer legen: Sie sind Teil der natürlichen Welt, der Welt von Ursache und Wirkung, des Reichs der Notwendigkeit und nicht der Freiheit. Was jetzt zählt, sind Absichten, Integrität, Aufrichtigkeit, Prinzipientreue, Reinheit des Herzens, Natürlichkeit - und nicht Glück, Kraft, Weisheit und Erfolg."

    Berlin hat verzichtet, seine ideenhistorischen Essays und sein Freiheitsdenken zu einem System zusammenzuschließen. Aber der innere Zusammenhang der Wahrnehmungen und Argumente ist unverkennbar. Freiheit ist negativ, als Freiheit von äußeren, staatlichen oder gesellschaftlichen Eingriffen; Wahrheit ist subjektiv und individuell, Ausdruck der Person wie eine künstlerische Schöpfung; die subjektive, expressive Wahrheit des modernen Menschen bedarf der negativen Freiheit des nur den Rahmen festlegenden modernen Rechtsstaates. Philosophie als Geist der ewigen Revision sichert diese Freiheit, denn sie unterminiert jeden philosophischen Anspruch auf ewige Wahrheiten, der zur Unterdrückung der bunten Fülle von Einzelwahrheiten führt. Und wie geht das zusammen, der nur Spielregeln aufstellende Rechtsstaat und die miteinander wetteifernden Wahrheiten? Es geht zusammen in der Mäßigung, im Vermeiden von Übertreibungen und letzten Konsequenzen. Das wäre die eine Wahrheit hinter den vielen Wahrheiten. Man könnte sie mit einem weniger langweiligen Wort, das bei Berlin nicht vorkommt, auch Humor nennen.