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Wölfe im Schafspelz

Diktaturen geben sich heute moderater, ohne aber auf den Kern ihrer Macht zu verzichten, sagt Politikredakteur William J. Dobson. Für seine Recherchen hat er moderne Diktaturen beziehungsweise "gelenkte Demokratien" wie Venezuela, Ägypten, China oder Russland besucht.

Von Paul Stänner | 03.12.2012
    "Wenn wir heute an Diktaturen denken, dann haben wir Stalins Gulag im Kopf oder die Killing Fields von Pol Pot oder Maos Revolutionskampagnen. Es gab Unterschiede zwischen ihnen, aber ihnen allen lag massive Gewalt zu Grunde. Heute haben diese Regimes ihre Methoden verfeinert."

    William J. Dobson ist Politikredakteur der amerikanischen Zeitschrift Slate, zuvor hat er die Zeitschrift "Foreign Policy" geleitet. Dobson hat in einer Serie von Artikeln, für die er seit 2010 geschätzte 150.000 Kilometer gereist ist, moderne Diktaturen untersucht. Er hat Russland besucht, China, Venezuela, Ägypten und an einem unbekannten Ort in den USA das Trainingslager einer Organisation namens CANVAS, in der Aktivisten geschult werden, die in ihren Heimatländern gegen autoritäre Regimes antreten. Diktatur 2.0 heißt das Buch, das seine Artikel versammelt.

    "Für die, die an der Macht bleiben wollen, ist es viel besser, Methoden zu benutzen, die auf den ersten Blick legal erscheinen. Sie nutzen die Medien, sie nutzen das Recht, ja und sie nutzen selbst Wahlen, um sich anders darzustellen als sie wirklich sind."

    Eine länderübergreifende Entwicklung in Richtung Demokratie begann laut Dobson grob gerechnet mit dem Sturz der portugiesischen Salazar-Diktatur 1974. In den Folgejahren gingen Gewaltregime alten Stils der Reihe nach unter: Spanien, Lateinamerika, der kommunistische Ostblock. Aber die Gewaltherrschaft ist deswegen nicht aus der Geschichte verschwunden. Sie hat sich nur eine neue Gestalt gegeben. William Dobson wollte herausfinden, wie in heutigen Diktaturen

    ... die brutaleren Formen der Einschüchterung – Massenfestnahmen, Exekutionskommandos und gewaltsames Vorgehen – durch subtilere Formen des Zwangs ersetzt werden.

    Ein Beispiel ist Russland: Während seiner Dienstzeit in der DDR, die Dobson -

    ... die Bilderbuchausgabe eines totalitären Staates des 20. Jahrhunderts.

    ... nennt, machte der junge KGB-Offizier Wladimir Putin seine ersten Erfahrungen im Machtapparat. Putins Fazit:

    Es war ein streng totalitäres Land nach unserem Muster und Vorbild, aber mit dreißigjähriger Verspätung.

    Putins – wie er sie nennt – "gelenkte Demokratie" agiert viel smarter als damals die brutale Sowjet- und DDR-Macht. Putin zog eine – in seiner Diktion – "Machtvertikale" ein, mit der der laute, chaotische Machtapparat aus Sowjetzeiten leise und effizient auf eine Person zugeschnitten wurde – auf Putin. Die Presse ist in der Hand des Kremls – und auch die meisten Oppositionsparteien, von denen einige gleich von Putins Leuten gegründet wurden. Dobson schreibt:

    Diese Parteien – meist als "systemische Opposition" bezeichnet – spielen nach außen hin die Rolle von Regimekritikern, gehen mit ihrer Kritik aber nie über die vom Kreml gesetzten Grenzen hinaus.

    Dobson, der in Russland wie auch in den anderen Ländern, die er besucht hat, immer mit beiden Seiten, mit den Mächtigen und den Aufsässigen, gesprochen hat, resümiert die russische Situation. Nach seiner Beobachtung kann sich Putin mit seiner inszenierten Demokratie an der Macht halten, aber nur wenn er sein Volk zufrieden stellen kann. In seinen Augen sind Korruption und Machtmissbrauch die Gefahren, die den Erhalt eines stabilen politischen Systems gefährden. Dobson schreibt:

    Das von Putin entwickelte System ist also offenbar eine Verbesserung der Diktaturansätze des 20. Jahrhunderts, hat aber durchaus auch seinen Preis. Die Macht in so wenigen Händen zu konzentrieren, fördert Korruption, Selbstzufriedenheit und Machtmissbrauch. Nachdem das Regime viele andere Machtzentren – die Geschäftsleute, Gouverneure, Medien, Oppositionsparteien – eliminiert hat, muss es den richtigen Kurs steuern, wenn es die Kontrolle behalten will. Ein schwieriger Balanceakt.

    In Venezuela hat Dobson Studenten besucht, die gegen Hugo Chavez antreten. Von ihnen hat er sich erklären lassen, wie sie mit kreativen, unvorhersehbaren Aktionen die Staatsmacht ausgehebelt haben. Dobson ist in allen Kapiteln ein spannender Erzähler, im Venezuela-Kapitel insbesondere glaubt man den Respekt und die Sympathie und das Vergnügen zu spüren, das der Autor bei seinen Besuchen empfunden hat. Der Leser hat bei Dobsons Bericht schnell den Eindruck, diese jungen Leute seien engagiert, aber auch über-optimistisch. William Dobson widerspricht:

    "Ganz im Gegenteil. Sie sind Optimisten in der Hinsicht, dass sie sich ihrem Kampf verschrieben haben, aber unter ihnen gibt es kaum Romantiker. Diese Leute denken sehr taktisch, sie haben sich in Kämpfen ihre Narben geholt, sie wissen genau, was sie tun. Romantiker halten sich in diesen Kämpfen nicht lange. Diese Leute haben gelernt, genau zu kalkulieren, was sie tun und wenn sie überhaupt etwas sind, dann pragmatisch."

    Dobson hat eine lange Tour d´horizon hinter sich gebracht und Einblicke in die Innenwelt der Kämpfe um mehr Demokratie geliefert. Dobsons sehr anschauliche Reportagen beschreiben die Akteure auf beiden Seiten, ihre Motive, ihre Möglichkeiten und Grenzen und am Ende glaubt man ein wenig besser zu verstehen, was in Osteuropa oder der arabischen Welt geschieht. Zwar ist immer noch die Gefahr gegeben, dass auch smarte Regimes wieder zu stalinistischen Methoden zurückkehren oder Revolten scheitern, aber am Ende seiner Reise urteilt William Dobson:

    "Ich bin heute optimistischer, als ich es zu Beginn meines Projekts war. Ich bin sehr beeindruckt von der Kreativität und Innovationsfähigkeit und der sorgfältigen Planung, mit der sich diese Oppositionellen vorbereiten. Die Regimes sind sehr clever, da darf man sich nicht vertun, die sind sehr geschickt in ihren Taktiken. Aber ich glaube, der Vorteil liegt bei denen, die sich gegen sie zur Wehr setzen. Die Ereignisse von 2010 tragen jetzt Früchte und das ist einzigartig und neu."

    William J. Dobson: Diktatur 2.0
    Verlag Karl Blessing
    496 Seiten, 19,95 Euro
    ISBN: 978-3-896-67471-5