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Wohlstand im Alter

Die Rentenpolitik ist ein Dauerbrenner in der bundesdeutschen Reformdebatte. Vor 50 Jahren beschloss der Bundestag ein Gesetz, das einen Meilenstein bei der Altersversorgung markiert. Die dynamische Rente wurde eingeführt.

Von Bert-Oliver Manig | 21.01.2007
    Am 21. Januar 1957 verabschiedete der Bundestag eines der bedeutendsten Gesetzeswerke in der Geschichte der Bundesrepublik: die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Rückwirkend zum 1. Januar 1957 wurden die Renten in der Arbeiter- und der Angestelltenversicherung nach einer neuen Rentenformel berechnet. Bundeskanzler Konrad Adenauer erläuterte:

    "Zwei Gründe waren es, die uns veranlassten, von dem bisherigen System der Festsetzung der Höhe der Renten abzugehen: Einmal war das durch die gezahlten Beiträge angesammelte Kapital, aus dem die Renten gezahlt werden sollten, durch die beiden Inflationen, die wir seit dem ersten Kriege und dem zweiten Kriege erlebt haben, mehr oder weniger geschwunden. Und fernen nahmen die Sozialrentner an dem materiellen Aufstieg der Arbeitnehmer nicht teil. Wir haben daher nach einem anderen, einem neuen Bemessungsfaktor für die Renten gesucht und haben ihn in der Anpassung an die steigende Produktivität der deutschen Volkswirtschaft gefunden. Das neue Gesetz ist ein sozialer Fortschritt allerersten Ranges. Es ist von der denkbar größten sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung."

    Das war keine Übertreibung. Die neue Rentenformel hatte es in sich: Die Arbeitnehmer-Renten wurden zwar weiterhin individuell berechnet, aber insgesamt am jeweils aktuellen Lohnniveau ausgerichtet. Was das bedeutete, konnten die 6,6 Millionen Rentner schon bald auf ihren Rentenbescheiden lesen: Ihre Bezüge stiegen um durchschnittlich fast 70 Prozent. Und zukünftig wurden die Renten jährlich den steigenden Bruttolöhnen angepasst.

    Für diesen neuen Mechanismus bürgerte sich rasch das Schlagwort der dynamischen Rente ein. Es verhieß den Arbeitern und Angestellten einen Ruhestand ohne materielle Not und in Würde, wie Bundesarbeitsminister Anton Storch betonte:

    "Ich möchte gerade unseren Alten und Gebrechlichen sagen, dass ich mich sehr darüber freue, dass sie nunmehr ihren Lebensabend in Ruhe und Frieden und ohne Sorge vor der Not der nächsten Tage gestalten können, ohne dass sie irgendwie zum Wohlfahrtsamt zu gehen brauchen und ohne dass sie Dankeschön zu sagen brauchen für das, was man ihnen für den Lebensunterhalt gibt."

    Die Rentenreform war ein Meilenstein in der deutschen Sozialgeschichte. Bis dahin waren die Renten lediglich ein Zubrot gewesen, das nicht aus der Abhängigkeit von der Familie oder vom Sozialamt befreite. Dank der Dynamisierung der Renten erhielten diese eine neue Funktion: Sie dienten der Aufrechterhaltung des gewohnten Lebensstandards im Alter. Damit gehörte für die weitaus meisten Angestellten und Arbeiter die Angst vor der materiellen Not im Alter der Vergangenheit an.

    Das Volumen der Rentenerhöhungen im Jahr 1957 entsprach etwa einem Fünftel des Bundeshaushalts. Skeptiker malten bereits die Gefahren eines maßlosen Versorgungsstaates an die Wand: Die Industrie befürchtete einen Anstieg der Lohnkosten, die Versicherungswirtschaft eine Schwächung der privaten Altersvorsorge, und die Bundesbank sah in der dynamischen Rente ein Treibmittel für die Preise. Selbst unter den Rentnern waren Inflationsängste verbreitet:

    "Wenn ich so an meine Vergangenheit zurückdenke, an die Inflation, dann gruselt es mir vor jeder Rentenerhöhung. Es ist mir lieber, wenn ich mit meinen 108 Mark auskomme, wenn die Preise gesenkt werden und die Steuern gesenkt, als dass ich wieder Millionen oder Billionen habe und laufe damit von Geschäft zu Geschäft und habe kein trockenes Brot zu essen."

    Doch Bundeskanzler Adenauer setzte sich über alle Bedenken hinweg. Die spätere Entwicklung gab ihm Recht: Die D-Mark blieb stabil, die Wirtschaft boomte, die private Sparquote blieb hoch. Und die Arbeitnehmer, die die Rentenreform langfristig mit gebremsten Lohnsteigerungen finanzierten, waren dazu bereit, weil ihnen der neue Generationenvertrag einen gesicherten Ruhestand garantierte. Sie nahmen auch keinen Anstoß daran, dass der aus dem Kaiserreich stammende ständische Aufbau der Altersicherung erhalten blieb und Selbstständige, Beamte und höhere Angestellte von der solidarischen Pflichtversicherung ausgenommen waren.

    Die sozialdemokratische Forderung nach einer egalitären Volksversicherung war ausgebremst worden, nur widerwillig stimmte die SPD der Rentenreform zu. Das Kalkül Adenauers ging auf: Die Wähler schrieben die Rentenerhöhungen vor allem der CDU gut. Im September 1957 errang die Union bei der Bundestagswahl die absolute Mehrheit.