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Wort des Jahres
Postfaktisch

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat "postfaktisch" zum "Wort des Jahres" gekürt. Aber hatten Fakten nicht schon immer einen schweren Stand gegen die Macht der Gefühle und niederen Instinkte? Und wenn wir tatsächlich in postfaktischen Zeiten leben, können wir der Wahl dann überhaupt trauen?

Eine Glosse von Florian Werner | 09.12.2016
    Die Auswahl der Gesellschaft für deutsche Sprache
    "Postfaktisch" ist das Wort des Jahres 2016 (picture alliance / Susann Prautsch)
    Die Konkurrenz war bärenstark, Buchmacher von London bis Lippspringe hatten bis zuletzt auch einen Sieg der "Horrorclowns" oder des "Trump-Effekts" für möglich gehalten. Aber seit heute Morgen steht fest: "Postfaktisch" ist das Wort des Jahres. Der Portmanteau-Begriff "Brexit", der ebenfalls eine starke Saison gelaufen ist, landete auf Platz 2. Der Ausdruck "Silvesternacht" war zwar schon früh ins Rennen gestartet, kam aber über einen ehrenvollen dritten Platz nicht hinaus. Was die beiden abgeschlagenen Begriffe vermutlich den Sieg kostete: Letztlich geht es auch bei ihnen um Postfaktizitität.
    Aber was bedeutet das eigentlich: "postfaktisch"? "Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück" - der alte Aphorismus von Karl Kraus gilt auch und ganz besonders hier: post-fak-tisch … Meint das die Tatsache, dass im Zeitalter der Digitalkommunikation nur noch Briefe klare Tatsachen, eben "Post-Fakten" schaffen? Oder bezeichnet es, mit einem etwas groben Anglizismus, ein Möbelstück, an dem sich nach dem Geschlechtsverkehr besonders gut speisen lässt? Pardon, Quatsch: Das Wort ist natürlich ein Adjektiv und bezeichnet die Tatsache, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend um Emotionen geht. O-Ton Angela Merkel, die den Begriff am 19. September ins Rennen brachte: "Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen."
    Aber stimmt das denn - beziehungsweise war das nicht schon immer so? Brachen nicht bereits die Griechen einen Krieg gegen Troja vom Zaun, nur weil der gefühlsduselige Paris die schöne Helena geraubt und dabei den Fakt außer Acht gelassen hatte, dass sie verheiratet war? Handelten etwa die Kreuzritter vernunftorientiert, als sie im Namen einer unsichtbaren höheren Macht mordend und brandschatzend nach Jerusalem zogen? Von den fanatisierten deutschen Massen, die 1933 einen verbrecherischen Hochstapler ins Reichskanzleramt hievten, ganz zu schweigen. "Fakten, Fakten, Fakten", wie der große Verfechter der Wahrheit, Helmut Markwort, auszurufen pflegte - sie hatten gegen Gefühle und niedere Instinkte schon immer einen schweren Stand.
    Apropos: Wie können wir überhaupt wissen, dass wir tatsächlich in postfaktischen Zeiten leben? Schließlich handelt es sich dabei ja nur um eine Behauptung der Systemmedien, denen bekanntlich jedes Mittel recht ist, um das gesunde Volksempfinden zu diskreditieren. Und das sogenannte "Wort des Jahres"? Wer weiß: Die Meldung, dass "postfaktisch" gewonnen hat, stammt ja auch nur aus der Lügenpresse; vielleicht ist ja doch "Brexit" oder "Silvesterknaller" Nummer eins, und die-da-oben wollen verhindern, dass wir das erfahren. Eigentlich gibt es nur eine Meldung, von der wir das Gefühl haben, dass sie den Fakten entspricht. Die Österreicher wählen nämlich seit 1999 ihr eigenes Wort des Jahres, und 2016 Jahr lautet es: "Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung".
    Und das klingt so gut, dass es einfach wahr sein muss.