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Wunder gibt es immer wieder

Marienerscheinungen, Stimmen aus dem Jenseits oder Geister - der Wunsch nach Wundern und Wundersamen ist mit zunehmender Technisierung zum Bedürfnis vieler Menschen geworden. Welche Bedeutung den Wundern zukam und zukommt, haben Theologen, Sozialpsychologen und Historiker auf der Tagung "Unbegreifliche Zeiten: Wunder im 20. Jahrhundert" in Essen diskutiert.

Von Matthias Hennies | 26.03.2009
    Man traf sich hinter zugezogenen Vorhängen, bei Kerzenschein, um Tische von selbst rücken zu sehen oder Stimmen aus dem Jenseits zu hören. Séancen waren an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine beliebte Beschäftigung - und einige der klügsten Köpfe ihrer Zeit nahmen daran teil. Selbst Lichtgestalten der Epoche wie Thomas Mann, Rudolf Virchow und Sigmund Freud ließen sich auf das Halbdunkel des Wunderbaren und Okkulten ein, berichtet Alexander Geppert, Historiker an der Freien Universität Berlin.

    "Thomas Mann hat sich 1922 von dem Münchener Privatgelehrten Schrenck-Notzing zu einer Séance einladen lassen und hat die in einem Text beschrieben, 'Okkulte Erlebnisse'. Da wird ein Medium vorgeführt. Man sitzt in einer Runde. Das Medium beginnt, in einer fremden Sprache zu sprechen. Plötzlich gibt es eine sogenannte Elevation, ein Arm erscheint. Thomas Mann ist zumindest überzeugt, dass er an diesem Abend tatsächlich an einer Materialisation von Geistern im Wohnzimmer eines Privatgelehrten teilgenommen hat."

    Geppert hat Wunderwahrnehmungen zu seinem Spezialgebiet gemacht. Er erforscht nicht, was dahinter steckt, sondern was Menschen als Wunder bezeichnen - und wann besonders oft davon die Rede ist.

    Für die Jahrhundertwende stellt er einen Boom von Wunderwahrnehmungen fest - das hing vermutlich mit dem Boom in den Naturwissenschaften zusammen. Je genauer Wissenschaftler die Welt erklären und je besser Techniker sie beherrschen konnten, je mehr das Leben von strenger Rationalität bestimmt war, desto stärker stieg das Bedürfnis nach dem Nicht-Rationalen.

    Erstaunlich ist daher nicht, dass auch im 20. Jahrhundert häufig von Wundern berichtet wurde - vermutlich weit öfter als im vermeintlich "wundergläubigen" Mittelalter. Und dieser Trend setzt sich fort. Helmut Zander, Historiker und Theologe an der Humboldt-Universität Berlin, gibt ein Beispiel:

    "In Sievernich, das ist ein kleiner Ort zwischen Bonn und Aachen, gibt es seit 2000 bis 2005 Marienerscheinungen, davon berichtet eine Frau Manuela Strack. Und sie beschreibt das sehr konkret: Dass sie so groß gewesen sei wie die Apsis in der Kirche, dass Engel daneben erschienen seien, die durchsichtige Schalen hatten, mit einer Flüssigkeit und einer Salbe gefüllt. Daneben berichtet sie aber auch, dass Maria Anordnungen gegeben habe, Buße zu tun, den Rosenkranz zu beten und auch Jesus zu verehren."

    Seitdem pilgern jedes Jahr etwa 5000 Gläubige nach Sievernich. Das ist wenig im Vergleich zu den Millionen, die andere "Wunderstätten" aufsuchen, aber eine bestimmte Gruppe von Katholiken fühlt sich offenbar von der Marienerscheinung angesprochen. Das hängt mit Reformen bei der Gestaltung der Messe zusammen, meint Zander:

    "Diese Marienerscheinungen sind sehr ästhetisch, viele Katholiken vermissen das im Gottesdienst; oder Maria fordert, Dinge zu tun, die nach dem Zweiten Vatikanum, dem Konzil in den sechziger Jahren, eine geringere Bedeutung bekommen haben - also Buße, Rosenkranz, Gebete, eine hoch-eucharistische Frömmigkeit. Das heißt, die Marienerscheinung in Sievernich ist auf der einen Seite ein ästhetischer Erfahrungsraum für bestimmte Katholiken, auf der anderen Seite ist sie ein Gegenprogramm zu vielem, was im Zweiten Vatikanischen Konzil durchgesetzt wurde."

    Was als Wunder wahrgenommen wird, ist ein spezifischer Ausdruck der Zeit. Im Frühen Mittelalter erlebte man spektakuläre, außergewöhnliche Dinge wie Erscheinungen von Drachen. Seit der Neuzeit sind die Ereignisse alltäglicher. Heute hört oder liest man täglich von Wunderheilungen, Wundern der Technik oder der wundersamen Rettung eines havarierten Flugzeugs.

    "Jede Zeit schafft sich ihre Räume, wo sie an die Grenzen ihres Wissens stößt - und das geschieht in unterschiedlichen sozialen Milieus, an anderen Stellen. Wer in Sievernich Maria begegnet, der hat eine andere Grenzerfahrung des Wirklichen und Wunderbaren als ein Astronom, der die Grenzen seines Wissens im Blick auf das Fernrohr oder in seinen Erklärungsmodellen erfährt."

    Genau besehen, steckt hinter dem Begriff "Wunder" Unterschiedliches: Er bezeichnet nicht nur übersinnliche Wahrnehmungen wie eine Marienerscheinung oder Stimmen aus dem Jenseits, sondern wird auch oft verwendet, um die Grenzen des Wissens zu beschreiben. Wie Zugvögel ihren Weg finden oder wie Termiten die Konstruktion ihrer komplexen Bauten koordinieren, erschien selbst Naturforschern lange Zeit wie ein Wunder.

    Ein Forscher versucht jedoch in der Regel, das "Wunder" aufzuklären - während der Gläubige es bewahren möchte. Trotzdem haben sie etwas gemeinsam: Die Wahrnehmung eines Wunders ist immer subjektiv. Man kann es zwar mit anderen zusammen erleben oder anderen davon berichten, doch es lässt sich nicht objektivieren. Alexander Geppert berichtet, wie das gerade in der "wunderintensiven" und zugleich wissenschaftsgläubigen Zeit vor der Jahrhundertwende immer wieder versucht wurde.

    "Es gibt eine breite Geister-Fotografie im 19. Jahrhundert. Immer wieder wird versucht, mit dem neuen Medium des Fotoapparates, von dem angenommen wird, dort könne man endlich die Wirklichkeit objektiv festhalten, Dinge zu fotografieren, die per se flüchtig sind, die aus dem Jenseits stammen, die vielleicht dem menschlichen Auge nicht zugänglich sind, die aber mit dem Fotoapparat festzuhalten sind."

    Die Geistererscheinungen ließen sich nicht auf die Fotoplatte bannen - Wunder stammen eben aus der subjektiven Wahrnehmung.