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Zu viel Bürokratie auf der Weide

Eine neue EU-Verordnung zum Schutz vor Tierseuchen verlangt, dass jedes einzelne Schaf künftig spezielle Ohrmarken tragen muss. Schäfer sind allerdings skeptisch, was Praxistauglichkeit und Nutzen des neuen Systems angeht.

Von Mirjam Stöckel | 19.08.2013
    800 Muttertiere hat Schäfer Jürgen Seywald aus dem südbadischen Örtchen Ballrechten-Dottingen in seiner Herde, dazu noch Lämmer. Er zeigt auf eins der Tiere, die vor ihm im Stall auf dickem Stroh stehen.

    "An dem einen Schaf sieht man, dass es ein geschwollenes Ohr hat, durch die Ohrenmarke, wo das rauseitert."

    Solche Verletzungen passieren, wenn die Tiere wie üblich draußen auf der Weide sind und dann mit der Marke im Gestrüpp oder an einem Zaun hängen bleiben und sich das Ohr einreißen. Geht dabei die Marke in einem Ohr verloren, muss Schäfer Seywald auch die aus dem anderen Ohr entfernen und zwei neue einstechen. Denn auf den Marken steht die individuelle Kennziffer des Schafes – und die muss auf jeder Seite die gleiche sein. Seywald ärgert das Ohrmarken-Hin-und-Her ziemlich.

    "Das ist natürlich ein hoher Arbeitsaufwand und natürlich für das Vieh auch nicht unbedingt erträglich."

    Und dann kommen dazu noch die Kosten für die neuen Ohrmarken.

    "Wir haben bei einem Lamm einen Reinerlös von unter zehn Euro – und die Ohrmarke kostet zwei Euro. Das steht halt in keinem Verhältnis."

    Dass alle Schafe über neun Monate zwei Marken brauchen, schreibt die EU-Verordnung zur elektronischen Einzeltierkennzeichnung vor. Jedes Tier trägt seinen zwölfstelligen Zahlencode am Ohr, einmal sogar gespeichert auf einem elektronischen Chip. Die Schäfer müssen genau Buch führen über jedes Tier: welche Kennziffer es hat, ob es eine neue bekommt, wohin es eventuell verkauft oder wann es geschlachtet wird.

    Viel Bürokratie. Die soll dafür sorgen, dass der Lebensweg jedes einzelnen Schafes nachvollziehbar wird. Und das wiederum soll helfen, die Ausbreitung von Seuchen zu verhindern. So die Idee.

    Doch in der Realität funktioniere das System nicht, sagt Schäfer Seywald.
    Im Seuchenfall muss nämlich schnell herauszufinden sein, welches Tier eine Krankheit eingeschleppt haben könnte. Genau das aber sei anhand der zwölfstelligen Nummern eine langwierige Sache. Vor allem, weil die Lesegeräte für die elektronischen Chips draußen auf der Weide nicht zuverlässig arbeiteten.

    "Es ist halt so: Man muss die Ohrenmarke putzen, dann muss man das Ohr direkt an das Gerät halten, damit es überhaupt funktioniert – und das ist halt in der Praxis nicht durchführbar."

    Deshalb wollen die Schäfer zurück zum alten System. Vor der Einzeltierkennzeichnung hatte nämlich jeder Schäfer seine eigene Betriebsnummer. Die trug jedes Schaf auf nur einer Ohrmarke statt auf zwei. Deshalb war das Verletzungsrisiko für die Tiere nur halb so groß – und jeder Schäfer erkannte an einer fremden Betriebsnummer am Ohr sofort, welche Schafe zugekauft waren und möglicherweise eine Krankheit einschleppen konnten.

    "Bei der elektronischen Marke haben wir einen zwölfstelligen Zahlencode mit fortlaufenden Nummern. Da muss ich praktisch die ganze Herde kontrollieren – jede Ohrenmarke ablesen. Und bei den anderen sehe ich es in einem kurzen Augenblick."

    Einer von Seywalds Berufskollegen hat gegen die elektronische Einzeltierkennzeichnung geklagt – bis zum Europäischen Gerichtshof. Anwalt Michael Winkelmüller vertritt den Schäfer und gibt sich kämpferisch:

    "Hier haben wir wirklich einen Fall, in dem wir gute Argumente haben. Immerhin bezeichnet auch der deutsche Bundesrat – also nicht nur einzelne Interessenvertreter, sondern die Vertreter der Länder – die Verordnung der EU als eine Bürokratiemaßnahme ohne jeden tierseuchenfachlichen Nutzen, die dringend abgeschafft gehöre."


    Doch aller Kritik zum Trotz: Die EU-Kommission beharrt auf der elektronischen Einzeltierkennzeichnung. Schriftlich teilt sie mit: Angesichts der verheerenden Folgen, die bestimmte Tierseuchen haben können, halte sie das System "grundsätzlich für angemessen" und plane keinerlei Änderungen der entsprechenden Verordnung.

    So können Jürgen Seywald und die übrigen Schäfer in Deutschland nur hoffen, dass der Europäische Gerichtshof die Vorschrift kippt. Ein Urteil wird schon in wenigen Wochen erwartet.