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Zum 100. des "Meisters der Ideengeschichte"

"Isaiah Berlin werden künftige Generationen als einen der letzten Repräsentanten des europäischen Geistes erkennen", schrieb die französische Tageszeitung Le Monde. Ein wesentlicher Grund für die Sonderstellung des russisch-englisch-jüdischen Denkers liegt darin, dass er aus der Auseinandersetzung mit den Philosophien der Aufklärung und Gegenaufklärung ein bis heute gültiges Konzept des Liberalismus entwickelt hat.

Vorgestellt von Lewis Gropp | 05.06.2009
    Als Isaiah Berlin November 1997 in Oxford verstarb, beschrieb ihn die BBC in ihrem Nachruf als einen außergewöhnlichen, das Leben liebenden Mann mit einem Bildungshorizont enzyklopädischen Ausmaßes. "Sir Isaiah", hieß es, "hinterlasse eine bedeutende Lücke im intellektuellen Leben dieses Landes, die kein Anderer zu füllen vermag." In zahlreichen Äußerungen über Isaiah Berlin findet sich dieser Tonfall tiefen Respekts und – ungewöhnlich für einen öffentlichen Intellektuellen – der aufrichtigen Zuneigung. Berlin war es vergönnt, Renommee, Popularität und Sympathie bis weit über die akademischen Zirkel hinaus zu erlangen.

    Bereits als junger Philosophieprofessor der Universität Oxford erreichte er die Briten mit seinen Vorträgen über das Massenmedium Radio. In der Regel arbeitete er ohne Manuskript, und so waren seine Exkurse in die abendländische Ideengeschichte nicht nur lehrreich, sondern auch lebendig und unterhaltsam. Freunde und Weggefährten schwärmten von Isaiah Berlins Witz, Geistesgegenwart und seinem gewinnendem Wesen. Von einem seiner Kollegen ist sogar das Wort überliefert, dass es niemanden gab, der ihn nicht mochte. Berlin war absolut unprätenziös: Nicht zuletzt von Tolstoj hatte er gelernt, dass intellektuelle Brillanz den Menschen nicht vor Torheit und fatalen Fehleinschätzungen bewahrt. Zeit seines Lebens hat er daher genuines Verstehen über intellektuelle Meisterschaft gestellt.

    Geboren wurde Isaiah Berlin am 6. Juni 1909 im lettischen Riga, das damals zu Russland gehörte. Als einziges Kind einer wohlhabenden Holzhändlerfamilie sei er, nach eigenem Bekunden, hemmungslos verwöhnt worden. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung waren seine Eltern und er von den diskriminierenden Gesetzen, denen Juden im zaristischen Russland unterworfen waren, zunächst ausgenommen. Aber der aufkeimende lettische Nationalismus trug zunehmend antisemitische Züge, die sich mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der näher rückenden deutschen Front noch verstärkten. Schließlich zog die Familie in die Nähe von St. Petersburg. Doch nach Ausbruch der Februar- und Oktober-Revolution von 1917 und den zunehmenden Schikanen der bolschewikischen Geheimpolizei beschlossen die Berlins nach England auszuwandern. Rückblickend muss Berlin, neben Bertrand Russel der bedeutendste Denker des Liberalismus im 20. Jahrhundert, dieser Schritt wie eine Vorsehung erschienen sein – schließlich ist Großbritannien mit John Locke, David Hume, Jeremy Bentham und John Stuart Mill das Mutterland dieser Denkrichtung.

    Aber auch für Deutschland und die deutsche Geistesgeschichte ist Berlin eine zentrale Figur, und so würdigen der Berlin Verlag und der Suhrkamp Verlag den Meister der Ideengeschichte mit jeweils einer Publikation zu seinem 100. Geburtstag. In manchen Buchtiteln allein steckt mehr Poesie und Wahrheit als in anderen "Gesammelten Werken". Der Band "Das krumme Holz der Humanität", der acht Essays aus unterschiedlichen Schaffensperioden versammelt, ist ein solches Buch. Der besagte Titel bezieht sich auf ein Zitat von Immanuel Kant, das die Weltanschauung Berlins lyrisch und konzise auf den Punkt bringt: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." Berlin sah sich selbst als einen Vertreter der Aufklärung, doch seine Auseinandersetzung mit den Philosophen der Gegenaufklärung festigte seine ablehnende Haltung gegenüber deren rigiden Weltbild, das allzu optimistisch auf die geplante Formbarkeit von Mensch und Gesellschaft zielte – und schließlich im Namen der Freiheit unfreie und diktatorische Gesellschaftssysteme errichtete. In Bezugnahme auf den theoretischen Marxismus schreibt Berlin im Tonfall trockenen britischen Understatements: "Ich sehe hier einen metaphysischen Optimismus am Werk, zu dem nach aller historischen Erfahrung kein Anlass besteht."

    Spannend ist in diesem Zusammenhang auch, wie Berlin die deutsche Romantik als eine Gegenbewegung zu der von Frankreich ausgehenden Aufklärung schildert. Er interpretiert diese Epoche als eine Protest- und Trotzreaktion der kulturell so lange gedemütigten Deutschen, deren "Lebensart, Kunst und Denken provinziell" blieben, wie es heißt, während England, die Niederlande und vor allem Frankreich in seinem zivilisatorischen Höhenflug herablassend auf die tumben Teutonen herabschauten. "Gedemütigte Menschen tun so, als sei das, was sie nicht erreichen können, gar nicht erstrebenswert", erklärt Berlin einleuchtend in dem Text "Die europäische Einheit", um dann zu beschreiben, welcher Art der weltanschauliche Trotz war, der sich östlich des Rheins zusammenbraute.

    "Die Deutschen rebellierten ( ... ) gegen die französische Übermacht auf den Gebieten von Kultur, Kunst und Philosophie und rächten sich mit einem Angriff gegen die Aufklärung. ( ... ) Vielfalt statt Einförmigkeit; Inspiration anstelle erprobter und überprüfter Regeln und Traditionen; das Unerschöpfliche und Grenzenlose anstelle von Maß, Klarheit und logischer Struktur; die Innerlichkeit und ihr Ausdruck in der Musik; die Verehrung der Nacht und des Irrationalen – darin bestand der Beitrag des wilden deutschen Geistes, der wie ein frischer Wind in das stickige Gefängnis der etablierten Ordnung Frankreichs einbrach."

    Isaiah Berlin schildert die Romantik als einen Wendepunkt der europäischen Geistesgeschichte von dramatischem Ausmaß. Die Rebellion richtete sich gegen die klassisch-einheitliche Systematik der Aufklärung; mit Herder und dem deutschen Historismus setzte sich der Pluralismus durch, der das Verständnis von Philosophie und unserem gesellschaftlichen Zusammenleben bis heute maßgeblich prägt. Darüber hinaus betont Berlin den irrationalen Wesenszug der Romantik, der das Dunkle und Gewalttätige in Natur und Mensch beschwor.

    "Dieser ( ... ) Subjektivismus, dessen leidenschaftlichster Verkünder der eigentliche Vater der Romantik, Johann Gottlieb Fichte, war, mündete allerdings zuletzt in wilder Anarchie und Irrationalität, in byronesker Selbstberauschung, im Kult des düsteren, zwielichtig faszinierenden Außenseiters, des Feindes der etablierten Gesellschaft, des satanischen Helden ( ... ), für dessen stolze Unabhängigkeit kein Preis an Menschenglück und Menschenleben zu hoch ist. Im Falle ganzer Nationen leistete die Ablehnung der Idee universell gültiger Werte zuweilen einem Nationalismus und aggressivem Chauvinismus sowie der Verherrlichung einer kompromisslosen Selbstbehauptung bestimmter Individuen oder ganzer Kollektive Vorschub. In extremen Fällen nahm sie verbrecherische und extrem pathologische Formen an und gipfelte in der Preisgabe der Vernunft und jeglichen Realitätssinnes, oft mit verheerenden moralischen und politischen Folgen."

    Angesichts des Verlaufs der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert stellt sich beim Lesen dieser Passagen ein bedrückendes Unbehagen ein. In gewissem Sinne klingen hier die Katastrophen des ersten und zweiten Weltkrieges schon an, und Isaiah Berlin erzeugt diesen Eindruck auch ganz bewusst – schließlich war er von der Macht der Ideen überzeugt. Aber es geht ihm nicht um billige Schauereffekte im Panoptikum der Ideengeschichte. Er ist vielmehr daran interessiert, mit welchen Einwänden – insbesondere vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts – das humanistisch-aufklärerische Modell korrigiert werden muss, damit es auch in Zukunft Bestand haben kann. Anregend ist in dieser Hinsicht auch der Essay zu dem erzreaktionären Katholik und Gegenaufklärer Joseph de Maistre, den Isaiah Berlin bemüht ist, als Vorläufer des Faschismus zu deuten – auch wenn hier mehr als in anderen Kapiteln die Begrifflichkeiten gedehnt werden, um der Argumentation zu genügen.

    Wie ein musikalisches Leitmotiv tauchen in den acht Essay von "Das krumme Holz der Humanität" also immer wieder die Begriffe Aufklärung und Gegenaufklärung auf, die von den jeweiligen Konzepten Einheitlichkeit und Pluralismus getragen werden. Die frühere Ausgabe des Suhrkamp Verlages war seit langem vergriffen; nun ist die Textsammlung also endlich wieder lieferbar.

    Der kleine Band "Der Fuchs und der Igel" wiederum erscheint jetzt erstmals als Monografie im Suhrkamp Verlag. Der Text befasst sich mit dem Geschichtsverständnis von Leo Tolstoj; und dass hier die gleichen Begriffe im Mittelpunkt stehen wie bei dem "Krummen Holz der Humanität", zeigt, wie kohärent das Universum Isaiah Berlins aufeinander abgestimmt ist; sogar Joseph de Maistre, der intellektuelle Terrorist, begegnet uns wieder.

    Der 1953 verfasste Essay erfreut sich bis heute besonderer Beliebtheit – nur wenigen Werken gelingt es, so elegant und leichtfüßig literarische Bildung mit philosophischer Weisheit zu vereinen. Hier bezieht sich der Titel auf einen Ausspruch des griechischen Dichters Archilochos, der da lautet: "Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache." Berlin findet hier den genialen Aufhänger für seinen kleinen brillanten Text.

    "Im übertragenen Sinne lassen sich diese Worte ( ... ) so verstehen, dass sie auf einen der tiefsten Unterschiede zwischen Schriftstellern und Denkern und vielleicht zwischen Menschen überhaupt hinweisen. Es besteht nämlich eine tiefe Kluft zwischen denen, die alles auf eine einzige, zentrale Einheit beziehen ( ... ), ein einziges, universales, gestaltendes Prinzip, das allein allem was sie sind und sagen, Bedeutung verleiht –, und auf der anderen Seite denen, die viele, oft unzusammenhängende und sogar widersprüchliche Ziele verfolgen ( ... ). Diese Menschen leben, handeln und denken in einer Weise, die eher zentrifugal als zentripetal zu nennen ist, ihr Denken ist sprunghaft oder verschwommen, bewegt sich auf vielen Ebenen und ergreift das Wesen einer großen Vielfalt von Erlebnissen und Gegenständen um ihrer selbst willen. ( ... ) Die erste Art von Intellektuellen und Künstlern gehört zu den Igeln, die zweite zu den Füchsen. ( ... ) Wenn wir auf keiner zu starren Klassifikation bestehen, dann können wir ohne Gefahr, auf Widerspruch zu stoßen, sagen, dass Dante in diesem Sinne der ersten Kategorie angehört, Shakespeare der zweiten; Plato, Lukrez, Pascal und Hegel, Dostojewski, Nietzsche, Ibsen, Proust sind in unterschiedlichem Maße Igel; Herodot, Aristoteles, Montaigne, Erasmus, Molière, Goethe, Puschkin, Balsac und Joyce Füchse."

    Isaiah Berlin stellt nun die Hypothese auf, dass Tolstoj von seiner Natur her ein Fuchs war, den es aber immer dazu drängte, ein Igel zu sein, er war sozusagen ein Pluralist wider Willen. Ein Mensch, der die Welt in seiner ganzen Vielfalt erkannte – und deshalb als Literat ein Genie war, dabei aber immer zwanghaft nach dem all umfassenden Ur-Grund suchte, den kein Mensch zu Lebzeiten schauen kann – weswegen er als Philosoph scheiterte.

    Berlin selbst war ein literarisch veranlagter Philosoph – seine zahlreichen, scheinbar disparaten Lehrsätze bildeten im Ganzen betrachtet die Grundsätze der modernen, pluralistischen Gesellschaft, in der wir heute leben. Die Antwort auf die Frage, ob Isaiah Berlin denn nun ein Fuchs oder ein Igel sei, müsste also lauten: Er ist ein Fuchs, in dem man, aus der Entfernung betrachtet, den Igel erkennt.

    Die beiden Bände, mit denen der Denker jetzt geehrt wird, bilden eine ausgezeichnete Einführung in sein umfassendes Werk. Berlin lesen, heißt denken lernen.

    Isaiah Berlin: Das krumme Holz der Humanität, aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Berlin Verlag, Berlin 2009, 430 S., 19,90 Euro.
    Isaiah Berlin: Der Igel und der Fuchs – Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis, aus dem Englischen von Harry Maor, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009, 105 S., 12,80 Euro.