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Zwischen Gedenken und Glorifizierung

Im Zweiten Weltkrieg wollte die Nazi-Besetzung in Frankreich das Land spalten. Der Norden und ein langer Streifen am Atlantik war die von den Deutschen besetzte Zone. Für die südliche, unbesetzte Zone war die Regierung in Vichy – einem Badekurort – zuständig. Mit dieser Regierung befasst sich nun der Historiker Henry Rousso.

Von Albrecht Betz | 11.07.2011
    Der Anstoß kam von außen: Es war die Studie des New Yorker Historikers Robert Paxton über Vichy-Frankreich, die bei ihrem Erscheinen in Paris 1973 eine Mauer des Schweigens brach; ein "Schlüsselereignis" auch für den damals Geschichte studierenden und heute als einer der bedeutenden französischen Zeithistoriker geltenden Henry Rousso. Die Jahre der Besatzung, von 1940-1944, stehen seit Jahrzehnten im Zentrum seines Interesses. Frankreich und die "dunklen Jahre" heißt Roussos jüngste, ins Deutsche übersetzte Sammlung von Texten, die er im Vorjahr als Gastprofessor in Jena - an Norbert Freis Zentrum für Geschichte des 20. Jahrhunderts - vorgetragen hat. Der Untertitel: 'Das Regime von Vichy in Geschichte und Gegenwart' lässt bereits vermuten, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit, genauer: die Phasen der Erinnerungspolitik in der französischen Nachkriegsgeschichte einen dominierenden Platz einnehmen.

    Denn eine Darstellung Frankreichs unter deutscher Besatzung, knapp, präzise und informativ, hatte Rousso bereits 2009 in der Beck'schen Reihe vorgelegt. In seinem neuen Opus geht es nun - auf nur 190, allerdings sehr konzentrierten Seiten - vor allem um Gedächtnisgeschichte. Gleich der erste Beitrag exponiert die "Schlachtfelder der Erinnerung. Von de Gaulle zu Sarkozy." De Gaulles Politik charakterisiert Rousso als eine des "offiziellen Vergessens", für ihn sei es wichtiger gewesen, nach vorne zu schauen. Seine Vergangenheitspolitik habe sich in drei wesentlichen Ideen artikuliert:

    "... einen Schlussstrich unter den Dreißigjährigen Krieg gegen Deutschland (1914-1945) zu ziehen, das Buch der inneren Konflikte (Vichy und Algerien) zuzuschlagen und das neue politische Regime der V. Republik auf eine Grundlage zu stellen, die teilweise auch der Résistance entstammt."

    Ein Ausgangspunkt für kommende Konflikte, denn de Gaulles Selbststilisierung zum einzigen legitimen Chef der Résistance wurde keineswegs von allen geteilt, die gegen Vichy und die Besatzungsmacht gekämpft hatten. In de Gaulles Mischung aus offiziellem Vergessen, Aussöhnungspolitik und Heldengedenken im Zeichen der Staatsräson blieb wenig Platz für die Opfer und ein Leidensgedächtnis. Erst Ende der 60er-Jahre setzte - dann freilich europaweit - die Anamnese der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg ein. Rousso skizziert die Lagerbildungen und Frontlinien samt ihren Verschiebungen, die sich auf diesem kontroversen Feld im Verlauf der Debatte abgezeichnet haben. So standen sich bei einer möglichen staatlichen Anerkennung der Verbrechen, die Vichy im Rahmen der "Endlösung" begangen hatte, zwei Positionen gegenüber.

    "Auf der einen Seite die "gaullistische" Position, die von Präsident Mitterand und allen vertreten wurde, die betonten, die Republik sei im Juli 1940 selbst das erste Opfer des Vichy-Regimes geworden. Deshalb sei es nicht normal, wenn sie dessen Verbrechen anerkennen müsse, zumal nach fünfzig Jahren. Auf der anderen Seite dominierte die Sicht einer staatlichen Kontinuität, nach der Vichy Frankreich gewesen sei, obschon nicht ganz Frankreich, und dass die im Rahmen der "Endlösung begangenen Verbrechen so schwerwiegend seien, dass Staat und Nation ihre Verantwortlichkeit anerkennen müssten; ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland, ein demokratischer Rechtsstaat, die Verbrechen des Dritten Reiches - wenngleich spät - anerkannt und angenommen habe."

    Rousso diskutiert auch die erst vor wenigen Jahren in Kraft getretenen sogenannten Gedenkgesetze, die zu regeln suchen, was staatlich zu würdigen ist und auch, was aus staatlicher Sicht inakzeptabel ist. Das erste stellt die Leugnung der Existenz des Holocaust unter Strafe. Den danach benannten "Negationisten" und ihrer Verankerung in der Universität Lyon widmet Rousso einen detaillierten Beitrag. Sein Essay über den in Frankreich seit langem und mit Hingabe gepflegten Mythos der Einzigartigkeit steht außerhalb der Vichy-Problematik. Der Diskurs über die Exemplarität und Ausnahmestellung werde stets von der Idee begleitet, dass Frankreich ein "Modell" sei, dass es eine "Mission" habe, nämlich die Verbreitung der Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit; mit der impliziten Folge, dass die anderen sich Frankreich anpassen müssten und nicht umgekehrt. Rousso dekonstruiert diesen Anspruch auf Vorbildlichkeit:

    "Einerseits verweist die Glorifizierung des französischen Modells auf eine ruhmreiche Geschichte, entstanden aus der Revolution von 1789, den Arbeiterkämpfen, dem siegreichen Ausgang zweier Weltkriege, den progressiven politischen Errungenschaften; andererseits enthält das Gedenkgebot die Verpflichtung, sich ständig eine lange Liste von Verbrechen vor Augen zu halten, die Frankreich in der Vergangenheit begangen hat."

    Die gesamte zweite Hälfte von Roussos neuem Buch gilt einer französischen Besonderheit, der "Ich-Geschichte; die hat im universitären System vorzulegen, wer sich habilitieren möchte. Der Kandidat hat einen etwa 100 Seiten starken Text zu schreiben, in dem er schlüssig erklären muss, wie er geworden ist, was er derzeit ist. Rousso ist sich der Schizophrenie dieser Übung gerade für Historiker bewusst, die doch erzogen werden, jener fatalistischen Auffassung zu widerstehen, die Geschichte hätte sich nur so ereignen können, wie sie sich ereignet hat. Nach der ironischen Distanzierung zu Beginn lässt er sich dann aber doch auf dieses unvermeidliche Spiel ein und zieht alle Register historischer Reflexion und Selbstreflexion. Dazu gehört die eigene Verortung innerhalb der Fachgeschichte und auch die Mitteilung dessen, was von großen Vorbildern übernommen wurde, so von Richard Paxton:

    "... zu zeigen, wie wichtig es ist, das ideologische Projekt von Vichy und seine innenpolitischen Realisierungen ernst zu nehmen. Die nationale Revolution hatte sich weder damit begnügt, einen Pétain-Kult zu treiben, noch damit, vereinfachende Parolen zu verbreiten. Sie war Teil einer bewussten und freiwilligen Strategie, welche die französische Gesellschaft tiefgreifend verändern wollte."

    Henry Rousso: "Frankreich und die dunklen Jahre – Das Regime von Vichy in Geschichte und Gegenwart", Wallstein Verlag, 190 Seiten, 15 Euro, ISBN: 978-3-8353-0756-8