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Zwischen relativer Gerechtigkeit und eklatanter Straflosigkeit

Als vor zehn Jahren der Internationale Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag seine Arbeit aufnahm, wollte man erreichen, dass kein Diktator, Kriegsverbrecher oder Warlord mehr ungeschoren davonkommen sollte. Bleibt die Frage, ob das Gericht den Erwartungen gerecht geworden ist.

Von Cornelius Wüllenkemper | 25.06.2012
    "Das zehnjährige Bestehen des Internationalen Strafgerichtshofs ist sicherlich kein Grund zu feiern, weil nicht zuletzt gerade in Syrien, aber auch in vielen anderen Ländern, die Menschenrechtsverletzungen nach wie vor vonstattengehen und auch der Internationale Strafgerichtshof und alle Gesetze, die um ihn herum geschaffen wurden, dem nicht abhelfen konnten."

    Der Titel von Wolfgang Kalecks Buch über den Stand des internationalen Völkerstrafrechts spricht für sich: Mit zweierlei Maß werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bis heute verfolgt, so nüchtern lässt sich die Einschätzung des Generalsekretärs des Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte – kurz ECCHR - zusammenfassen.

    Kaleck kritisiert: Es sind fast ausschließlich die Kriegsverlierer in eher schwachen Staaten, in der politischen und militärischen Hierarchie eher zweitrangige Straftäter, die zur Verantwortung gezogen werden. Vor wenigen Wochen erst hat der Internationale Strafgerichtshof im zehnten Jahr seines Bestehens das erste Urteil gefällt - gegen den kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga, der im Bürgerkrieg Kindersoldaten einsetzte. Auch wenn die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch von einem mächtigen Signal sprach, sieht Kaleck das Urteil kritisch aufgrund der Tatsache ...

    "... dass dieses Verfahren sich so lange hinzieht, dass die Anklagebehörde dafür kritisiert wird, dass sie die Beweise auf unmögliche Art und Weise gewinnt. Aus der Region wurde ja auch berichtet, dass es ein Glaubwürdigkeitsproblem gibt, weil eben alle Militärs und Paramilitärs dort mit Kindersoldaten arbeiten. Das ist schlimm, aber es werden dort eben noch viel schlimmere Taten begangen: Massenvergewaltigungen, Massaker und eben von noch sehr viel Mächtigeren."

    Wolfgang Kalecks Buch bietet dabei mehr als nur eine Generalabrechnung mit der Selektivität der Völkerstrafrechtsverfolgung. Kaleck beschreibt die vielschichtige Struktur gerichtlicher Instanzen sowie nationaler und internationaler politischer Autoritäten, die als Akteure in der Verfolgung von Kriegsverbrechern auftreten. Der Autor unternimmt einen historischen Rückblick bis zu den Nürnberger Prozessen als Startpunkt der gerichtlichen Verfolgung von Großverbrechen. Vom Vietnamkrieg über die Kolonialkriege bestand bis zum Ende des Ost-West-Blocksystems ein Rechtsvakuum, das erst aufgelöst wurde, als die Staatengemeinschaft ihr politisches und militärisches Versagen in den Völkermorden der 1990er-Jahre in Jugoslawien und in Ruanda zumindest formal auszugleichen versuchte.

    "Dann hat man als Reaktion darauf die Strafgerichtshöfe vom UN-Sicherheitsrat schaffen lassen. Die haben zwar langsam aber doch stetig, eine gehörige Zahl von Urteilen gefällt, die dann wiederum als Basis dafür dienten, dass bei den Beratungen für den Internationalen Strafgerichtshof die Befürworter eines solches Gerichtshofes sagen konnten: Es funktioniert doch!"

    Neben den UN-Kriegsverbrechertribunalen ist der 2002 gegründete Internationale Strafgerichtshof als erste Instanz unabhängig sowohl von nationalen Autoritäten als auch vom UN-Sicherheitsrat und kann ohne Ankläger eigenmächtig Ermittlungen aufnehmen. 120 Staaten haben sich der Gerichtsbarkeit unterworfen - allein Großmächte wie die USA, Russland, Indien oder China verweigern sich bis heute. In einzelnen Nationalstaaten ist es zudem möglich, unabhängig von internationalen Abkommen Anklage gegen Kriegsverbrecher in der ganzen Welt zu erheben.

    Kaleck weist darauf hin, dass bis heute 1051 Klageanträge an europäischen Gerichten eingereicht wurden, von denen nicht mehr als 32 konkret verfolgt wurden: Sie richten sich fast ausschließlich gegen afrikanische Potentaten. Dennoch müssen auch Straftäter aus der westlichen Welt mehr als früher mit Verfolgung rechnen, betont Wolfgang Kaleck.

    "Wenn man nur die Endergebnisse anschaut, dann ist die Bilanz europaweit tatsächlich eher beschämend. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass es schon in den letzten zehn Jahren einiges an Bewegung gegeben hat, zum Beispiel, was die Verurteilung Russlands vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anbelangt. Für die USA haben Kollegen in europäischen Ländern es geschafft, immerhin einzelne CIA-Agenten für ihre Mitwirkung an den CIA-Entführungsflügen zur Verantwortung ziehen zu lassen."

    Auch heute unterliegt die Verfolgung von Kriegsverbrechern globalen Machtverhältnissen, sowie politischen, militärischen und insbesondere wirtschaftlichen Interessen. Das weist Wolfgang Kaleck in seinem Buch stets kritisch aber nie ohne optimistische Perspektive an exemplarischen Fällen seit 1945 anschaulich nach, unter anderem an der Aufarbeitung der Diktaturen in Südamerika, aber auch anhand des US-amerikanischen Foltersystems im Krieg gegen den Terror.

    Dabei ist es nicht immer einfach, dem Autor auf sehr knappen 140 Seiten in die komplexen Strukturen des Völkerstrafrechts zu folgen. Zwischen Teilerfolgen, v verliert Kaleck teilweise den roten Faden, unternimmt nicht immer nachvollziehbare Gedankensprünge und gibt widersprüchliche Einschätzungen einzelner Verfahren ab. Doch wer sich einen raschen Überblick über die Entwicklung des Völkerstrafrechts parallel zur Weltgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, die Rolle von Menschenrechtsorganisationen und die noch ausstehenden Ermittlungen von Großverbrechen in internationalen Krisengebieten verschaffen will, dem sei dieses Buch dennoch ans Herz gelegt.

    Cornelius Wüllenkemper besprach das Buch von Wolfgang Kaleck: Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkersstrafrecht. Erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, 144 Seiten, € 15,9o.